Zentrale Distanz
Zum Start neuer Projekte wie diesem gehören Bedenken. Nicht als Bürgerin, aber als Autorin war ich besorgt:
Werden Themen und Motivation reichen?
Wie bändige ich die Lust, nur noch in Städte zu reisen und darüber zu schreiben?
Was sagt meine Verpflichtung zur Zahlung von Miete, wenn ich in meiner Arbeitszeit kein Geld verdiene?
Und was passiert, wenn ich aufgrund der Adoption eines Affen bei gleichzeitigem Landen von Alien-Horden kurzzeitig anderweitig okkupiert sein sollte?
Nur mit einem hatte ich nicht gerechnet: Den Zugang zu Berlin und anderen Städten zu verlieren. Mein Fehler. Zu meiner Verteidigung sei vorgebracht: Es ist meine erste Pandemie. Beim nächsten Mal weiß ich Bescheid.
Wir schreiben Tag 24 der Selbstisolation, die meine Welt zwar nicht virtuell, aber in echt auf ein Minimum zusammenschnurren ließ. Mein Radius endet derzeit, wo meine Füße mich hintragen. So war 2020 nicht geplant, und ja, Prag und London via Brüssel und Dresden und alle Orte, die zu besuchen auf meiner diesjährigen, dem Zugstolz angepassten Agenda standen: Ich spreche von euch!
Da a) wir zumindest in meiner Berliner Heimat weiterhin raus dürfen und b) das Angucken und über Gesehenes Nachdenken meinem Beruf als Journalistin entspricht, komme ich nicht umhin, von meinen Ausflügen in die Außenwelt etwas mit ins Homeoffice an den Rechner zu bringen. Folgende Gedanken zu Städten in Zeiten von Corona und darüber hinaus gehören dazu.
1. Menschen machen Stadt
Es gibt Momente, in denen möchte ich meine Mit-Stadtbewohner:innen platzverweisen. Als Fünfer-Gang mit Kinderwagen auf ein Nebeneinander auf dem Bürgersteig zu bestehen; aufs Waschen, aber nicht aufs Mischen unters Volk zu verzichten; sich als Risikogruppen-Rentnerpaar samstags in die ridikül lange Warteschlange vorm Obi einzureihen: Muss das sein?!
Doch dieser Tage fällt mir auf, wie sinnlos leer Straßen und öffentliche Räume ohne diese und alle anderen Leute sind. Der kurze Schnack beim Broterwerb. Das Türaufhalten, das Zunicken, das sich gegenseitig einen schönen Tag Wünschen. Das Beratungsgespräch an der Kuchentheke im favorisierten Café, obwohl klar ist, dass ich hinterher doch was mit Streuseln nehme. Das alles fehlt mir sehr.
Je größer die Stadt, desto größer sind Anonymität und Ignoranz, besagt das Klischee. Doch gerade beobachten wir, dass dem nicht so ist.
Nachbar:innen kaufen füreinander ein. Obdachlosen werden Essenstüten an Zäune gehängt oder direkt ans Bett unter der Brücke gestellt. Berliner:innen haben Gutscheine im Wert von über 500.000 Euro für Cafés, Restaurants und andere Orte erworben, damit diese ihre Mieten und Angestellten bezahlen und nach der Zwangsschließung wieder öffnen können. In anderen Städten läuft das ebenso.
Viele sind solidarisch mit Leuten, die sie persönlich kaum kennen.
Wer ein weniger pandemielastiges Beispiel für die Suche nach menschlichem Miteinander möchte, denkt an Restaurants, die einen Abend lang leer bleiben, weil dort sonst niemand sitzt.
Ohne Menschen ist von Architektur bis Zoos alles doof; nichts mit urban. Dass ich nun alle mir zu nahe Kommenden als potentielle Bedrohung anzusehen und auszuweichen habe, nervt enorm.
Was uns zur Frage bringt, wie das in den kommenden Monaten weitergehen soll? Wenn die Vorhersagen über die Verweildauer von Corona nur halbwegs stimmen, werden wir das Biest auf absehbare Zeit schließlich nicht los.
Die von mir favorisierte Lösung lautet, Menschen mehr Platz einzuräumen. Viele sitzen auf dem Weg durch die Stadt nicht hinter einer Tröpfchen abfangenden Windschutzscheibe. Kreuzberg gewährt Radfahrer:innen daher schon jetzt testweise eine Fahrspur extra. Das konsequent durchzuziehen und dabei auch an schmale Bürgersteige und die aktuell enorme Anzahl Spazierender zu denken, wäre doch was.
Außerdem hilfreich wäre, Bus und Bahn immer öfter fahren zu lassen. Auch ohne Corona sind die nahezu Reindrück-Personal erfordernde Zustände etwa der Berliner Ringbahn nicht okay.
So könnten wir Menschen leichter wieder unter Menschen, ohne die permanente Sorge ums Wahren von Distanz.
2. Urban ist ungleich Konsum
Gibt es in Berlins Straßen mehr Wasserpumpen, Glascontainer oder „Zu-verschenken“-Kisten? Sangen die Vögel in Frühjahren mit Fluglärm auch so laut? Und warum stehen da überall Forsythien? (Ganz recht, ich musste googeln, wie man die schreibt. In meinen Grundschul-Diktaten kam nämlich nur „Das Abreißen der Weidenkätzchen ist verboten“ vor.)
Seitdem fast alles geschlossen ist, was ein Schaufenster sein eigen nennt, fällt mir sowas auf.
Schon ewig warnen Leute, die Expertentum als Berufsbild ansehen, vor der Verödung von Innenstädten. Wenn es dort nichts mehr zu kaufen gebe, käme niemand mehr aus dem Haus, behaupten sie. Gerade zeigt sich aber, dass dem nicht so ist. Die Menschheit spaziert und joggt wie irre, und entdeckt die Möglichkeiten ihrer Städte dabei neu.
An einem aus Gründen nicht näher benannten Ort haben Kids ihre illegale BMX-Strecke ausgebaut. Unter der Bösebrücke sah ich gestern einen Herrn mit sich selbst Tennis gegen die Wand spielen. Auf dem Lidl-Parkplatz lief am Sonntag ein selbstverständlich aus aktuellem Anlass auf die Kleinstfamilie beschränktes Hockey-Turnier. Und mein rennaffines Herz erfreut sich derzeit an Laufrouten, die sonst nur am frühen Morgen des Zweiten Weihnachtsfeiertages funktionieren. (Wenn jetzt noch jemand Waldboden auf der Friedrichstraße installieren könne, wäre ich trotz Lage zumindest ganz kurz fast mal froh.)
Keine Sorge, ich will niemandem das Kaufen verbieten. Aber ich habe den Eindruck, urbanes Leben funktioniert auch und nebenbei inklusiver und nachhaltiger, wenn wir anderes mit unseren Städten anzufangen finden als reinen Konsum. Ausreichend Primark-Outfits für alle oben beschriebenen Aktivitäten und die nächsten Jahrzehnte haben wir doch, seien wir mal ehrlich, auch nach drei Runden Ausmisten mit Marie Kondo immer noch daheim.
3. Bis zur Stadtgrenze ist auch noch Stadt
„Der Berliner Helmholtzkiez ist einer der am dichtesten besiedelten Flecken Europas.“ Als ich noch Prenzlauer Berger Lokaljournalistin war, zählte dieser Satz ebenso fest zu meinem aktiven Arbeitswortschatz wie „Gentrifizierung“ und „Szenekiez“. Kleiner Scherz. Letzteres habe ich natürlich möglichst gemieden, ebenso wie ein weiteres S-Wort, das auf chwaben endet.
So richtig verstanden habe ich diese Dichte jedoch erst vor ein paar Tagen, als ich unterwegs Richtung Helmi an einer Kreuzung stockte, weil der Anblick der Menschenmassen zeigte: Hier entlang geht’s mit Sicherheitsabstand nicht.
Zu meinem persönlichen Glück wohne ich etwas abseitiger und bin nicht nur gut zu Fuß. Ich verdiene auch einen Teil meines Geldes mit Spezialwissen der Kategorie „Ausgetretene Touristenpfade? Nein danke!“. In anderen Worten: Falls jemand Interesse an einem Reiseführer „25 architektonisch wie landschaftlich unglaublich unattraktive, dafür aber menschenleere Spaziergänge durch Berlin“ hätte, ich stände bereit. Um Insidertipps zu spoilern: „Hinterm Netto geht es weiter: Wilhelmsruh wie es leibt und tagsüber schläft“ sowie „Zwischen Döner-Fabrik und Casino ,Royal’: sonntagvormittags in Reinickendorf“ wären in jedem Fall dabei.
Berlin ist auch Möbel-Lagerhalle und Ausfallstraße, ein Ort für das Waschen, Kaufen, Reparieren und Tanken von Autos sowie vergleichsweise unbewohnt. Nachdem wir schon über zu große Dichte und mangelnden Platz sprachen: Hier ist für mehr Menschen noch Potential!
Allerdings, auch das kam schon zur Sprache: Landschaftlich reizvoll ist es dort bislang nicht. Das liegt an einem Umstand, der in der politischen Debatte „Umweltgerechtigkeit, mangelnde“ heißt.
Wer Geld hat, wohnt eher im Zentrum. Da ist es schön und es wird ordentlich in Parkpflege und Straßenbau investiert, damit das so bleibt. Fabriken, Autobahnen und Einflugschneisen sowie ein Worst-of des Sozialwohnungsbaus der 1960er, 70er und 80er Jahre nehmen derweil mit wachsender Entfernung vom Stadtkern zu.
Das ist per se scheiße, weil eben ungerecht, und das zu ändern eh eine gute Idee. Aktuell wüchse damit zudem der Raum, den Städter aller Brieftaschengrößen als Stadt und damit ihr natürliches Erkundungs- und Auslaufgebiet ansehen.
Wie realistisch es ist, dass sich Derartiges ändert? Fragt doch nicht mich! Ich bin so ahnungslos in Sachen Zukunft, ich wurde freiwillig nach Erfindung des Internets freie Journalistin und rechnete, s. oben, eher mit Affenadoption als mit Pandemie.
Doch wir leben in Zeiten, in denen statt Bruce Willis Altenpfleger, Müllfrauen und Krankenbrüder die Welt retten und halb Deutschland vom Staat eine Art Grundeinkommen bezieht. Da halte ich vieles für möglich. Warum nicht auch das?
Haltet Euch wacker und bleibt gesund!
Foto: jw
Urbanes andernorts
An Fotos verlassener Orte auf der ganzen Welt mangelt es derzeit nicht. Besonders sehenswert fand ich die Fotoreihe der New York Times sowie Satellitenbilder bei Bloomberg.
Raus aus der Stadt, rein ins Ferienhaus auf dem Land! Warum dieser Corona-Fluchtinstinkt keine gute Idee ist, steht bei Buzzfeed (USA).
Schon immer wurden Städten in ihrer Bauweise von Pandemien geprägt. Am Beispiel New York zeigt das Curbed.
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