Platz für Neues ist in der vollsten City
Nach Berlin kam ich viel zu spät. Das wurde mir vermittelt, als ich 2002 zum Studium aufschlug und klar schien: Die 1990er und damit die guten Zeiten hatte ich verpasst. Modisch steckte ich dank Jean-Pascale-Pullis und Zebra-DocMartens zwar noch mittendrin, aber die Sache mit den spontanen Happenings in verlassenen Altbau-Remisen, illegalen Kellerbars und Drei-Tages-Clubs war definitiv vorbei. 2002 war nur noch übel etabliert. So zumindest meine leicht angefeierten Geographie-Kommiliton:innen, die korrekter mit dem Begriff Geo-Genoss:innen umschrieben wären, wenn sie im Fachschaftsraum über Instant-Gesöff aus ungespülten, damals noch aus einer Filiale in Spandau anzuschleppenden Ikea-Tassen ihre dreistelligen Semesterzahlen rechtfertigten.
Die Geograph:innen der Humboldt-Uni residierten damals in einem frisch sanierten Industriegebäude an der Chausseestraße. Für Außenlebende: Das ist die nördliche Verlängerung der Friedrichstraße – in anderen Worten: Das ist zentral. Doch 2002 hatten wir dort nichts, weder Kaffee mit Bohnen-Abstammung noch ein Café ohne Filzlauscharme. Ich wollte gerade schreiben, dass man dort abends als Frau schon etwas allein und ängstlich unterwegs war, aber das wäre falsch. Dort war einfach zu keiner Tageszeit was los.
So sei sie, die Zukunft der Innenstädte, erklärte uns ein Herr Kirsch im Proseminar Kultur- und Sozialgeographie, was ich in dieser Detailtiefe hier nur darob meines Erstaunens erwähne, dass ich das bis heute weiß. Zum Arbeiten kämen die Menschen noch in den City Business District, kurz CBD, wie Liebhaber:innen des gepflegten Fachbegriffs das Stadtzentrum nennen. Doch wohnen würden sie lieber draußen, im Grünen. Zwar gäbe es so ein lustiges soziologisches Phänomen namens Gentrifizierung. Das sei jedoch was aus und für die USA.
Um an dieser Stelle den großen Philosophen Alf zu zitieren:
“HA! HA! HA!”
Wir schreiben das Jahr 2020. Die Geograph:innen der HU wurden aus Mitte nach Gefühlt-Brandenburg, Ortsteil Adlershof vergentrifiziert, an der Chausseestraße kann man sich vor Stätten des per Hand importierten Cold Brews nicht retten, und Städte in aller Welt wünschen sich Hände, mit denen sie sich händeringend wünschen können, mehr Platz im Zentrum zu bekommen. Womit wir nun endlich beim Thema sind, dem ich mich heute widmen möchte: Fünf überraschend-obskure Orte, an denen sich auch in der kleinsten Hütte bzw. vollgebautesten Stadt noch ein Plätzchen findet.
Trommelwirbel und Bitteschön:
Auf der Autobahn
Zu den nicht sooooo tollen Ideen des 20. Jahrhunderts gehört die Erfindung der Stadtautobahn. Sie zerschneidet Viertel, macht Lärm und Schmutz und benötigt zudem recht viel Raum. In Hamburg hat man sich angesichts dieser Erkenntnis entschlossen, die A7 zu überdachen. Die war eh bau- und ausbaufällig; nun bekommt sie bei der Baugelegenheit einen hübschen Hamburger Deckel verpasst. Auf diesem sollen in Zukunft Stadtplatz und Park und Kleingärten unterkommen. Zudem können dank der Lärmschutzmaßnahme Autobahndach neue Wohnhäuser auf Flächen entstehen, die bislang zu nah an der Fahrbahn lagen. Der Deckel selbst kommt aus statischen Gründen nicht für den Hausbau in Frage. Gewerkelt wird seit 2014 und noch eine Weile (2028 ist geplant). Immerhin gilt es über vier Kilometer Autobahn zu begraben.
Auf dem Abstellgleis
New York schläft nie. Die Züge, die Pendler aus den Vororten nach Manhattan bringen, allerdings schon, und zwar gleich hinter der Penn Station mit Blick auf den Hudson River. Manhattan? Hudson-Blick? Fast komisch, dass erst 2011 jemand auf die Idee kam, in den Gleisen ein Fundament für ein paar hübsche Wolkenkratzer zu erkennen. Im vergangenen Jahr eröffnete Hudson Yards, wie das neue Viertel genannt werden möchte. Nun wird hier gewohnt, geshoppt, gearbeitet, gegessen, in aus Sicht von Höhenängstlichen unakzeptabler Position im Hotelpool gehangen sowie von Tourist:innen mit Instagram-Account das lustige Bauwerk „The Vessel“ bestiegen.
Auf Gräbern
Es tut mir leid, aber wir müssen über einen Trend sprechen, der zur Urne geht, sowie die Tatsache, dass es platzsparender ist, sich in einer solchen statt in einem Sarg beerdigen zu lassen. Berliner Friedhöfe benötigen in Folge dessen weniger Flächen; die dazugehörigen Gemeinden derweil Geld. Zack, schon ist ein Grundstück gefunden, um darauf einen Park oder ein Wohnhaus zu errichten. Im Leise-Park in Prenzlauer Berg führen alte Grabsteine und neue Spielgeräte seit Jahren eine friedliche Koexistenz; gleich im die Ecke nutzt eine Baugruppe ein Fleckchen Alt-Friedhof für ein modernes Öko-Holzhaus.
Auf dem Fluss
Frei herumdümpelnde Wasserflächen, und das mitten in der Stadt? Was für ein überflüssiger Luxus! Darauf kann man doch wunderbar Park, Basketballfeld und Rollschuh-Ring unterbringen. Dachte sich New York und baute den Brooklyn Bridge Park, der sich entlang des Ufers des East Rivers zieht, wo ein früherer Hafenbetrieb noch ein paar Piers herumstehen ließ. Auf diesen kann man heute je nach Bewegungsbedarf abhängen oder sporteln, während an Land mehr Platz für nette Dinge wie noch höhere Wolkenkratzer bleibt.
Auf hoher See
Piers Nachnutzen ist was für Anfänger:innen. Zumindest aus Sicht von Niederländer:innen, die es gewohnt sind, aus Wasser Land zu machen. Ijburg heißt der Stadtteil von Amsterdam, für den seit Ende der 1990er Jahre künstliche Inseln ins Ijmeer geschüttet werden. Ein Teil ist schon fertig; irgendwann (vom Berliner Flughafen lernen heißt Fertigstellungs-Daten nicht nennen lernen) sollen fast 50.000 Menschen auf zehn Neubauinseln wohnen. Die allerdings, bevor lummerlandeske falsche Vorstellungen in Umlauf geraten, mehr nach Neubau und weniger nach Insel aussehen.
Woraus wir lernen, dass sich die wachsende Stadt von heute ohne Mulitfunktionsfläche kaum mehr blicken lassen kann. Und 2002 war vielleicht später als 1991, aber ein zu spät gibt es für den lebenden Organismus Stadt eigentlich nie.
Urbanes andernorts
Orte neu und anders nutzen? Eine Kernkompetenz des Systems Stadt! Ein Wohnviertel für einen riesigen Park platt zu machen klingt von heute aus betrachtet kurios. Im New York des 19. Jahrhunderts wurde das dennoch gemacht. Die ganze Geschichte vom Seneca Village zum Central Park hat Vox.com im Video.
Über Hudson Yards lässt sich mehr erzählen als nur die Sache mit den Gleisen. Schonmal was vorbereitet hat dazu die New York Times.
Platz für einen Park extra auf dem Wasser zu suchen ist nicht immer eine gute Idee. Die Garden Bridge in London kostete richtig viel Geld, wurde aber nie gebaut. Weil ein Herr und ehemaliger Bürgermeister namens Boris Johnson dabei eine unrühmliche, also: seine Rolle spielte, sei zudem ein Text von 2019 aus dem Guardian verlinkt.
Fotocredits: Visualisierung Hamburger Deckel von DEGES/V-KON.media / Alle weiteren Fotos sind von mir, wobei ich mir der Ironie bewusst bin, ausgerechnet vom Berliner Leise-Park gerade keins parat gehabt zu haben.
Zentrale Orte ist ein Newsletter über Städte und freut sich über Abonnenten. Erzähle also gerne weiter, wenn Dir gefällt, was Du liest. Vielen Dank!