
Auf der Liste potentieller Reiseziele, die ich in meinem Leben unbedingt noch aufzusuchen hätte, stand ein Maislabyrinth im Hessischen nie unter den Top 10. Und doch war meine Anwesenheit an selbigem (nicht im; es war leider schon geschlossen. Nach 17 Uhr im Hessischen halt) wohl das, was in diesem Sommer am ehesten den Titel Urlaub verdiente. Andere Menschen, mit denen ich sprach, waren auf Rügen, am Bodensee, im Fichtelgebirge.
Liebe Leser:innen: Wo wart ihr? Wenn ich vorwegnehmend eine Vermutung äußern darf: New York, Rio, Tokio – waren es alle nicht.
Unser kleines Resilienz-Bootcamp namens Corona-Pandemie hat uns nicht nur mit schönen Begriffen wie Niesetikette, Homeschooling und Rettungsschirm-Bazooka vertraut gemacht, sondern auch unser Reiseverhalten stark verändert. Nachdem in den vergangenen Jahren der Städtetourismus so stark explodiert ist, dass einen Sommer lang alle Journalisten sich am Phänomen des „Over-Tourism“ abarbeiten konnten, ist dieses seit März pulverisiert. Dicht an dicht im ungekehrtwagenverreihten Zug Richtung Berghain zu reisen verliert halt an Attraktivität, wenn’s Berghain eh zu und der Flieger voller Masken oder, noch schlimmer, Maskenverweigerer:innen ist. In Berlin blieben in der Folge von den drei Millionen Übernachtungen im April 2019 im April 2020 gerade einmal fünf Prozent übrig, so das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. Erstmals seit der Wiedervereinigung nächtigten in einem Monat mehr Besucher:innen in Brandenburg als in Berlin.
Mit diesem Beispiel ist im Duden der Begriff „Bitterkeit“ illustriert.
Schweigeminute. Zu der ich eigentlich diesen Klassiker einbetten wollte, aber folgender Zufallsfund verdeutlicht das Dilemma noch besser.
Ein Großteil der Hotels war in diesem Monat so zwangsgeschlossen wie die meisten Grenzen, doch auch danach berappelt sich die Industrie nur im Vorlauf-Aus-Tempo. Die Halbjahresbilanz des Amts für Berlin liest sich verheehrend für alle, die wissen, dass die Stadt schon 2016 etwa 12 Milliarden Euro mit Tourismus und Kongressen umsetzte, woran wiederum etwa 235.000 Existenzen hingen. Neuere Daten gibt es leider nicht, wobei die Tendenz immer nach oben ging. Und nun, Auftritt Januar bis Juni 2020: 60 Prozent weniger Gäste. 50 Prozent weniger Umsatz bei den Hotels, 40 in der Gastronomie. 30 statt zuletzt 60 Prozent Auslastung der Betten.
Als aufmerksame Stadtdurchlatscherin konnte ich diese Entwicklung an der Voll- bzw. Leerheit zentraler Touri-Stätten wie dem Mauerdenkmal, dem Brandenburger Tor oder der Kastanienallee über die Wochen nachvollziehen. Aktuell würde ich sagen: In Berlin ist Tourismus vorhanden, allerdings deutlich weniger als sonst, und eine Gruppe fehlt fast komplett. An einer gut organisierten Busreise mit angeschlossenem Eisbeinverzehr und Übernachtung im Ibis interessierte Reisende fortgeschrittenen Alters bleiben offensichtlich gerade lieber daheim. Das bestätigt auch der RDA Internationaler Bustouristik Verband auf Anfrage. Die Zahl der Busreisen sei generell stark zurückgegangen; dazu trügen auch die Aussicht auf Maskenpflicht und Mindestabstand bei. Zudem richteten sich Busreisen vor allem an eine ältere Zielgruppe. Die sei derzeit besonders vorsichtig.
Auf den ersten Blick ist es durchaus angenehm, sich ohne Sardinenbüchsengefühl und Dauerbratwurstgeruch durch Berlin-Mitte bewegen zu können. Doch der Anblick leerer Geschäfte und leerer Lokale deprimiert. Einige haben schon aufgegeben, und wenn das so bleibt, wird es für viele schwer.
Wenn ich mit Blick auf Wirtschaftskraft und persönliche Schicksale zusammenfassen darf: Alles mies.

Immerhin ist Berlin mit dieser Entwicklung in guter Gesellschaft. New York City hatte sich für dieses Jahr auf über 67 Millionen Besucher:innen eingestellt. Im Juli vermeldeten die Hotels über 50 Prozent weniger Auslastung als noch 2019. In Wien nahmen Hoteliers im ersten Halbjahr fast 70 Prozent weniger ein als im Vorjahr. Den Londoner Tower besuchten an guten Tagen im August 2.500 Menschen – statt bis zu 15.000 sonst. Im Schnitt beklagten Museen und Galerien dort einen Besuchsrückgang um 85 Prozent. Nach Prag zog es im zweite Quartal des Jahres knapp 140.000 Reisende. Im Vergleich zum Vorjahr war das ein Einbruch um 93,6 Prozent.
Zunächst gilt es umgehend zu gestehen: Das ist meine Schuld! Zumindest mit. Denn eigentlich wollte ich 2020 dort überall hin. Viel wichtiger ist jedoch die sich anschließende Frage:
Und nun?
Unsere lieb gewonnene Gewohnheit des Verreisens hat es mit zu verantworten, dass Corona im Frühjahr den Weg nahm, der nun unser Alltag ist (viele Grüße an dieser Stelle an unsere Après-Ski-Gang aus Ischgl. Danke für nichts). Es einzuschränken ist daher wichtig und vernünftig, solange die Gefahr der Krankheit weiter besteht. Doch das hat Folgen für die Ziele wie eben Städte, deren Einwohner:innen und Wirtschaftskraft seit Jahren auf Tourist:innen und deren Reisekassen bauen.
Die erste Idee im Angesicht des Debakels: Sollen bitte erstmal all diejenigen kommen, die auf dem Weg keine Grenze zu überwinden haben, im Zweifelsfall nicht einmal die der Stadt. In München laden daher seit August Hotels Münchner:innen zum „Tapetenwechsel“ ein. Die Aussicht auf eine günstige Nacht mit Zimmerservice, Frühstücksbuffet und Wellnessbereichszugang (ja, ich war auch erstaunt, aber München macht’s alles wieder möglich) wird kombiniert mit Rabatten auf Sehenswürdigkeiten und freier Fahrt in Bus und Bahn. In Berlin lief Ähnliches bereits im Juli unter dem Motto „Erlebe Deine Stadt“. Nebenher wirbt die für die Touri-Ranschaffung zuständige Agentur „Visit Berlin“ unter „Berlin. Auch das“ für die Metropole als Naturerfahrungsraum. Grunewald, Müggelsee und Tempelhofer Feld gehören schließlich auch dazu und bieten anders als Hackescher Markt, SchwuZ und Konzerthaus ausreichend Platz für unsere neue beste Freundin namens sozialer Distanz.
Solchen Urlaub der kurzen Wege hält man auch international für eine prima Idee. New York hat dafür die Kampagne „All in NYC“ auf den Weg gebracht.
„The campaign will roll out in phases dubbed Rise, Renew, and Recover. Across these three stages, messaging and tourism-friendly programs will first target hyper-locally to metro residents, then as conditions allow, expand to regional, domestic and ultimately, to international travelers over time“,
heißt es in der Pressemitteilung. Paris wirbt mit „Paris is yours“; auf Großbritannisch heißt das „Escape the Everyday“.
„Young British holidaymakers are being encouraged to take UK city breaks and visit indoor attractions this autumn and winter, in a campaign designed to help hospitality and tourism businesses weather the ongoing coronavirus crisis.
Run by Visit Britain, the ,Escape the Everyday’ digital campaign will launch in September and promote short breaks and day trips across the UK, with a major focus on urban tourism“,
erklärt der Guardian.
Doch Staycation ist nur das eine Standbein, mit dem sich die Urlaubsmacher bis zum Impfstoff retten wollen. „SOS London“ funkte die dortige Tourismus-Industrie unlängst Richtung Staatshaushalt, und auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA bittet um Steuergeld, bis die Urlaubssaison zurückkehrt. Dabei sieht Präsident Guido Zöllick einen gravierenden Unterschied auf der Betroffenheitsskala zwischen Stadt und Land:
„Urlaubshotels und Ausflugsrestaurants insbesondere mit Terrassen und Biergärten verzeichneten eine gute Nachfrage. (…)
„Messen, Kongresse, Tagungen sowie Kultur- und Sportveranstaltungen finden immer noch nicht statt. Geschäftsreisende wie internationale Besucher fehlen schmerzlich. Die Situation der Stadt- und Tagungshotellerie sowie der Eventcaterer ist fatal.“
Damit die verliebenen Städter auch morgen nicht durch verödete Zentren irren müssen, in denen Zombie-Gangs verlassene Souvenirshops becampen und der Eiffelturm an akuter Unterfotografiertheit krepiert, sollen wir alle fürs Vaterland 1.) in die nächstgelegene Ausstellung rennen und 2.) eifrig Steuern zahlen, von denen wir als Reisende in Zukunft dann wiederum irgendwie profitieren. Ist schließlich schon schön, wenn es noch Hostels, Museen und Bierbikes gibt, wenn wir uns wieder ans Buchen trauen.
Bei letzterem Beispiel handelt es sich selbstredend um einen kleinen Scherz. Denn wenn wir, siehe oben, die „Und nun?“-Frage stellen, gehört dazu auch, einmal kurz zu sinnieren, ob ein Zurück zum Zuvor überhaupt das Richtige ist?
Wollen wir Klimakollaps dank Easyjetset?
Wollen wir Kieze, in denen 500 Spätkaufs, aber kein Supermarkt mehr residiert?
Wollen wir Ferien- statt Wohnwohnungen?
Angesichts der fortgeschrittenen Zeichenzahl schlage ich vor: Das klären wir in der zweiten Städtetourismus-Folge, nach der nächsten Maus.
Fotos: Zentrale Orte
Urbanes andernorts
Die Geschichte dreier Städte (und damit auch die der ganzen Welt) erzählt die vierteilige Doku “Amsterdam, London, New York”, noch bis zum 22. September in der Arte-Mediathek zu sehen.
Ja, dieser Klimawandel ist weiterhin aktuell, mit allen Folgen, etwa die der Migration. Welche Rolle Städte dabei spielen ist ein Aspekt der beeindruckenden Analyse “Where will Everyone go?” von ProPublica und New York Times Magazine.
Wie jetzt, nichts Deutschsprachiges heute? Doch, doch. Die Berliner Friedrichstraße ist jetzt autofrei, zumindest stückweise, zumindest zeitweise, schreiben alle. Bei Spiegel Online steht, ob und wie die Verkehrsberuhigung langfristig gelingen kann.
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Torsten find jut, wa! Der jeht ooch uff Quappen! Viele Grüße, Torsten