Schwarz-Weiß-Verkehr
Irgendwann im Verlauf der wie so viele vor ihr zu einem großen Zeitteig verschmolzenen vergangenen Woche, in der wir uns zum virologischen noch Fachwissen über Stimmauszählgewohnheiten US-amerikanischer Kleinstädte draufschafften, erreichte mich der Newsletter einer Substack-Kollegin aus den USA. Anne Helen Petersen schreibt über Politik, die moderne Arbeitswelt und in diesem Fall mir aus der Seele:
„The sadness, to me, is that people looked around them in this moment, and said, this, I want more of this. Not wanting substantive change in this moment — whether in regards to the climate, racial and social injustice, widening inequality, or this fucking pandemic — feels incomprehensible.“
Yep. Genauso ging es mir auch. Geht es mir, immer wieder, zu allen denkbaren Gelegenheiten und Themen. Atomstrom? Analogkäse? Fanartikel vom BER? Oder auch, dies ist schließlich ein Stadt-Newsletter hier, auf meinen pandemiebedingt so langsam als exzessiv zu bezeichnenden Spaziergängen durch Berlin.
Wenn ich zum Beispiel versuche, zu Fuß die Osloer Straße zu überqueren, und an jeder Verkehrsinsel erneut Ampelrot serviert bekomme. Wenn ich den chiapuddingzähen Feierabendverkehr auf der Bornholmer Straße erblicke. Wenn ich auf dem Weg zum Alexanderplatz bin. Wenn ich das achte Mal auf hundert Metern mit dem Rad runter vom Radstreifen muss, weil dort ein SUV „nur ganz kurz, mal eben, ist dringend“ parkt. Wenn ich als Pause von der elenden Heizungsplörre daheim frische Luft suche und stattdessen Abgase bekomme.
Mein Hirn hat einen so großen Vorrat derartiger Situationen angelegt, dass ich weitermachen könnte, bis sogar Donald Trump erkennt, dass nicht er die Wahl gewonnen hat. Fürs Erahnen der Tendenz reicht es aber sicher schon: Autos in der Stadt? Die sind hier verkehrt.
Meine Meinung.
Entsprechend erfreut bin ich über den Prozess, den Freund:innen bürokratischer Begriffe Verkehrswende nennen. Nicht gerade ein U-Turn, aber immerhin das stetige Bestreben, auch Leuten ohne auf endlichen Ressourcen basierendem Antrieb mehr vom öffentlichen Raum zuzugestehen. Nicht nur, aber auch powered by Corona-Krise, die allein aus Abstandsgründen für Menschen in der Stadt mehr Platz einfordert, hat sich in den vergangenen Monaten einiges getan.
Aus Parkplätzen wurden im Sommer Gastro-Terassen, Wien-affine nennen das Konstrukt Scharnigarten.
In Berlin ist seit August testweise ein Stück Friedrichstraße, in Hamburg seit Oktober der Jungernstieg autofrei. In Amsterdam läuft im kommenden Jahr auf einer der zentralen Verkehrsachsen im Zentrum ein ebensolcher Test.
In Wien wurde derweil im Sommer ein Teil des Gürtels von der Straße zum Park erklärt und sogar ein Freibad dort aufgestellt. Neben diesem Großprojekt „Gürtelfrische West“ wurden in Wohnvierteln einige „Coole Straßen“ von Autos geräumt und den Anwohner:innen zur Vergnügnungs-Verfügung gestellt. In München machten sie als „Sommerstraßen“ ebenso.
Ähnliches läuft überall; aus Platz für Autos wird Platz für Menschen. Ich begrüße das.
Entsprechend gut fand ich zunächst die private Initiative, in Berlin gleich das komplette Gebiet innerhalb des S-Bahn-Rings zur autofreien Zone zu erklären. Ich habe keins, dafür Füße und Fahrrad. Also immer her damit!
Doch dann las ich bei Zeit Online ein Interview mit Anne Gläser, einer der Ideengeberinnen, und fühlte ich mich erst peinlich berührt und dann ziemlich ertappt.
Denn wie soll das mit der Autofreiheit für alle funktionieren?
„Vielleicht verkauft man sein Auto und steigt aufs Fahrrad um. Oder man stellt sein Auto in ein Parkhaus außerhalb des S-Bahn-Rings“,
meint Gläser. Auf die Frage, wie die Familie ihren Großeinkauf nach Hause schleppen solle, erklärt sie, darüber solle die sich in der vorgesehenen Übergangszeit Gedanken machen:
„Wir könnten uns vorstellen, dass viel mehr Leute Lastenräder benutzen.“
In anderen Worten: Werdet doch endlich alle so wie wir!
Die größten Gegner von Veränderung hören auf die Namen Gewohnheit und Privilegienverlust. Wer sein Auto schon immer vor der Tür parken durfte, zündet lieber den kompletten Block an, als dass er eine Veränderung dieses Zustandes akzeptiert.
Zwar ist derzeit, wie jeder nachmessen kann, der Platz in der Stadt nicht fair verteilt. Doch dass Kreative mit Homeoffice nun schichtarbeitenden Krankenpfleger:innen vorschreiben wollen, sie kämen morgens um vier doch auch gut mit dem Lastenrad zur Arbeit, hilft nicht.
„Ich bin aufs Auto angewiesen.“ – „Nein.“
Das ist keine Diskussion.
Dieses fehlende Vorstellungsvermögen, dass es andere Menschen gibt, mit anderen Bedürfnissen, Gewohnheiten, Ansprüchen, und das auf allen Seiten: Das nervt mich sehr.
Um weiter im oben bereits erwähnten Text von Anne Helen Petersen zu zitieren:
“But there are millions out there who are scared of or outright hostile towards change, protective of what little they have, and resent the change scenario set forth by the left. If change means masks, if change means regulations, if change means giving up their place in the class and racial hierarchy, if change means less of something for them and theirs, they don’t want it.“
Und andersrum.
Der Klassiker der Verkehrsplanungserkenntnis lautet: Menschen mögen es bequem. Wenn es einfacher und schneller ist, mit dem Rad zur Arbeit zu kommen statt mit dem Privatwagen in Panzergröße, dann machen sie das. Der Bau immer neuer Radwege hilft also, aber nur bedingt.
“Ville du quart d’heure” – 15-Minuten-Stadt – heißt das Konzept, nach dem Bürgermeisterin Anne Hidalgo Paris gestalten will. In einer Viertelstunde soll zu Fuß, mit dem Rad oder Bus und Bahn alles erreichbar sein, was man zum Leben zu braucht. Als stolze Besitzerin eines Homeoffice kann ich vermelden, dass dieses Prinzip in Prenzlauer Berg prima funktioniert. Doch es gibt auch Menschen, die Arbeit, pflegebedürftige Eltern oder ein Schulplatz mit dem richtigen Förderschwerpunkt am anderen Stadtende ins Auto und die Rush Hour drängt.
In den vergangenen Monaten habe ich viel gehört: „Corona nervt.“ „Corona soll weggehen.“ „Ich kenne mittlerweile jeden Punkt meiner Raufasertapete persönlich.“ Nur „Das Pendeln fehlt mir“ gehörte nicht dazu. In unsere Lebenskonzepte, ins Gesellschaftssystem ist das nur so integriert, bislang.
Wer wirklich Wende will, muss nicht nur die Anderen, sondern auch das verstehen.
Fotos: Zentrale Orte
Urbanes andernorts
Was Städte alles ausprobieren, um vom Auto wegzukommen? Dazu gibt es eine sehenswerte Doku im SWR mit der Bonus-Track-Erkenntnis: Alle Nebenkosten eingerechnet, kostet ein durchschnittlicher Autobesitz 700 Euro im Monat. No shit.
Covid ruiniert so ziemlich alles, nun auch den Ruf von Bus und Bahn und die Bereitschaft, beides zu nutzen, steht im Guardian.
Wohnung in New York oder Singapur genehm? Nun wäre der ideale Zeitpunkt, zuzumieten, sinkende Preise durch Pandemie sei Dank (Bloomberg).
Zentrale Orte ist ein Newsletter über Städte und freut sich über Abonnent:innen. Erzähle also gerne weiter, wenn Dir gefällt, was Du liest. Vielen Dank!