Test, Test, Test: In vielen, kleinen Projekten zur autoarmen Stadt
Die absolute Speerspitze der progressivsten Stadtbaurevolutionär:innen vermutete ich persönlich nicht zwangsläufig in der Nähe der CDU. Wenn also genau dort, bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), alle einmütig verkünden, Autos in der Stadt seien ein Problem und müssten weg, dann möchtest du a) lieber kein fanatischer Autofan und b) auch kein Autounternehmen sein.
„Das Auto ist nicht das beste Verkehrsmittel für die Stadt“,
erklärte Nordrhein-Westfalens Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU). Der Mann wurde nicht nur bei der Geburt von Andy Scheuer getrennt (Beweisfoto, dass es zumindest zwei Personen sind), sondern erinnert zudem manche an den „jungen Friedrich März“ und zählt zu seinen Hobbys die Jagd.
Womit ich sagen will: Ich habe in der vergangenen Woche der digitalen KAS-Veranstaltung „Neu3 – Mobilität in Innenstädten neuaufgeteilt, neuorientieren, neuerfinden?“ beigewohnt und mitgenommen: Die Stunden des motorisierten Individualverkehrs, wie Konservative private PKW nennen, sind in der Stadt gezählt.
Prima, hätten wir das geklärt. Wie befrieden wir nun den Nahen Osten, nennen diese Plastiknübsel am Ende von Schnürsenkeln, und was machen wir zum Mittagessen?
Moooment, nicht so schnell, denn hier geht das Problem erst los. Die Realität auf städtischen Straßen sieht derzeit nämlich ganz anders aus. Oder, wie Wüst es an einem Beispiel aus seinem Bundesland plastisch machte:
„In Essen wird die Mehrzahl der Wege unter einem Kilometer mit dem Auto zurückgelegt.“
Die eine Freundin braucht in Berlin ein Auto, um mit zwei Kindern den Besuch bei der Oma im Umland nicht länger als zweistündigen Anreise-Pentathlon (Tram / Regionalbahn / S-Bahn / Bus / Bus) zu absolvieren. Die andere fährt damit das Kind zum Schulplatz am anderen Ende der Stadt, und auch Hundebesitz, Viren-Furcht oder reine Gewohnheit aus der ländlichen Vergangenheit sind Gründe, in der Großstadt per Auto mobil zu sein. Selbst in einer verwöhnten Metropole wie Berlin sind manche Verbindung mit Bus und Bahn eine Zumutung, manche Uhrzeiten für deren Nutzung nicht optimal. Radwege sind derweil immer noch zu schmal und zu selten, und vom Zustand der Gehwege fangen wir gar nicht erst an.
Kurz: Wenn es mit dem Auto schneller, sicherer und bequemer geht, dann nehmen die Leute halt das.
Doch Autos sind wie Unkraut, sie wachsen seit Jahren unkontrolliert, brauchen zu viel vom begrenzten Platz im engen Stadtraum und widersprechen zudem jedem Klimaschutzkonzept. Die Städte stehen damit vor der Herausforderung, Menschen lieb gewonnene Privilegien und Routinen abtrainieren zu müssen, ohne eine Revolution zu riskieren.
Ich wiederhole: eine große Herausforderung! Denn wenig bringt Menschen so auf die Palme, wie die Ankündigung, dass sie den kostenlosen Parkplatz direkt vor der Haustür verlieren.
Zudem gleich mitaufzulösen sind die Verkehre, die vermeintliche Ökos wie ich produzieren. Denn so viel ich mich auch rühme, keine Auto zu besitzen: Meine Wasserkästen und Pakete werden mir mittels motorisiertem Transporter zugestellt.
Womit wir nun wieder zurück zur eingangs erwähnten KAS-Veranstaltung kommen. Da wurden nämlich ein paar ganz interessante Lösungsstrategien vorgestellt.
Mehr Bus, mehr Bahn, mehr Vernetzung
Warum fahre ich nicht mit der S-Bahn zur Oma, warum nicht um 3.30 Uhr mit der U-Bahn nach Hause? Weil die Verbindung schlecht ist. Die gute Nachricht ist jedoch, dass sich das ändern lässt. Seit einiger Zeit bauen deutsche Städte daher ihren Nahverkehr massiv aus.
In Hamburg läuft das Projekt seit 2019 unter dem tollen Titel „Hamburg Takt“. Mit wahnsinnig viel Geld werden S-Bahn-, U-Bahn- und Buslinien verlängert oder neu angelegt sowie öfter auf die Strecke geschickt. Zudem werden sogenannte On-Demand-Angebote, also spontan zu bestellende Sammeltaxis, in das Tarifsystem eingebunden.
„In der gesamten Stadt soll man dann vom frühen Morgen bis in die Abendstunden innerhalb von fünf Minuten ein öffentliches Nahverkehrsangebot erreichen können“,
erklärte Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher zum Start. Bis 2030 soll alles umgesetzt und die Zahl der Fahrgäste um 50 Prozent gestiegen sein.
Doch nicht aller Verkehr entsteht in den Städten, viele pendeln auch für Arbeit, Einkauf oder Urlaub von außen rein. Hier stellt sich die Herausforderung, dass sich alle drei Minuten fahrende S-Bahnen in Innenstädten lohnen, jedoch nie im Speckgürtel oder gar auf dem flachen Land.
In Nordrhein-Westfalen sollen, ebenfalls im Zuge einer ÖPNV-Großoffensive, Schnellbusse einen Teil des Problems lösen. Die fahren zwar nicht im Minutentakt, halten dafür aber an Orten, die die Regionalbahn auch in den nächsten Jahrzehnten eher nicht erreicht. Dieses Konzept funktioniert schon seit langem sehr gut in Südamerika, etwa in Bogotá. Die Expressbusse haben dort sogar eigene Fahrspuren, auch weil das Vorbeiziehen am Dauerstau das Angebot noch attraktiver macht. Auch das könnte man, wenn man wollte, in Deutschland probieren.
Bei allem Ausbau, direkt vor der Haustür endet eine Reise mit den Öffis eigentlich nie. Das ist nicht zwangsläufig verkehrt, wie ich als ehemalige Anwohnerin einer M-„Party-Tram“-10-Haltestelle weiß. Diese letzten Lücken sollen Leihfahrräder, Leihautos oder Leihroller stopfen, die man idealerweise direkt jenseits der Bustür mieten kann. Aktuell testet ein europäisches Pilotprojekt in sieben sehr unterschiedlichen Städten, wie gut sich die Bündelung unterschiedlichster Angebote und Anbieter:innen an Mobilitätsstationen (sie nennen es eHubs) macht.
In Berlin hat die BVG sowas unter dem Namen Jelbi bereits in Betrieb. Neben gut zehn Stationen gehört zum Service auch eine App, die bei der Suche nach der besten Verbindung alles Verfügbare kombiniert.
Noch besser als mehr öffentlicher und geteilter Verkehr ist nur, Verkehr komplett zu vermeiden. Das funktioniert, wenn Menschen nicht mehr stundenlang aus der Wohnsiedlung ins Büro, zum Elektromarkt oder Sportverein pendeln müssen, sondern alles bequem in Rad- und Fußentfernung vorfinden. In mittelalterlichen Städten war dieses direkte Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten, Versorgen und Freizeit ganz normal. Heute gilt Paris mit seinem Modell der 15-Minuten-Stadt, in der alles Wichtige in 15 Minuten erreichbar ist, als revolutionär.
Effizienter Parken
Wer jemals eine Stadt mit dem Auto befuhr, weiß, dass selbst zur Hauptverkehrszeit der Weg von der Arbeit zum Fitnessstudio nur ein Teil des Problems darstellt. Der andere hört für Fans von Verwaltungsdeutsch auf den Namen Parksuchverkehr. Apps wie Parkopedia weisen zu dessen Vermeidung den direkten Weg ins nächste freie Parkhaus; im Freiburger Stadtteil Vauban lassen Anwohner:innen ihre Wagen am Rand des Viertels in der Quartiersgarage. Freie Plätze am Straßenrand sind hingegen komplizierter zu orten und damit zu vermelden. Aber auch in dem Bereich wird ausprobiert.
In Stuttgart läuft ein Pilotprojekt mit dem hübschen Titel „Digitales Lieferzonen-Management“. Dieses richtet sich speziell an unsere Freunde von Amazon, DHL und UPS, den Alnatura-Laster und wer sonst noch gerne in zweiter Reihe hält. Eine App kann diese zu aktuell freien Ladezonen leiten. Was sie jedoch nicht kann, ist die ständig alles blockierenden Nur-mal-eben-Zigaretten-holen-Falschparker:innen atomisieren.
Hier könnte das System der automatischen Parkraumkontrolle aus Amsterdam helfen, wo ein mit Kameras ausgestattetes Google-Streetview-Gedächtnisauto durch die Straßen streunt. Es scannt Autokennzeichen und gleicht diese mit einer Datenbank ab, wo vermerkt ist, wer Parkgebühren gezahlt hat und wer nicht. Selbst die schnellste Politesse mit Kollege Politeur kommen da nicht mit.
Noch effektiver gegen falsch parkende Lieferfahrzeuge hilft nur, diese gar nicht erst in jede Straße zu lassen. Manche Logistikunternehmen laden für die berühmte letzte Meile auf Lastenräder um. Alternativ könnten sich die Leute ihren Kram auch selbst aus Packstationen oder Lockern oder wie immer man die großen Paket-Kästen dann nennen mag abholen – warum nicht direkt neben dem eHub?
Weniger Parken, mehr Platz
Den Weg zum schnellen Parkplatz zu ebnen ist eine Variante, um Verkehr in der Stadt zu minimieren. Parken total unbequem zu machen und die Leute damit aus ihren Autos zu vergraulen, eine andere.
In Berlin kostet der Parkausweis für Anwohner:innen 20,40 Euro für zwei Jahre. Wer aber in der Prenzlauer Berger Kastanienallee einen Cafétisch auf den Bürgersteig stellen möchte, zahlt pro Monat und Quadratmeter 27,50 € ans Amt. Das ist nicht fair und könnte fürs Parken deutlich teurer werden. Geld zu verlangen, um überhaupt mit dem Auto ins Zentrum zu dürfen, hat sich etwa in London bewährt.
Zudem versuchen Städte aktuell Autobesitzer:innen mit sehr konkreten Beispielen klar zu machen, dass ihr Park-Platz auch von anderen Menschen gebraucht werden kann. In München wird der sommerliche Aperol Spritz mittlerweile gerne im Scharnigarten eingenommen – eine kleine Terrasse, die Gastronom:innen auf Parkplätzen errichten dürfen. Das ordnungsliebende Stuttgart bündelt derweil auf Parkplätzen vom Radbügel über Stromkästen bis zu Mülleimern und Parkuhren alles, was sonst auf zu schmalen Bürgersteigen im Weg rum steht. „Stuttgarter Rechteck“ heißt das Projekt.
Alternativ kann man natürlich auch ganze Viertel zur autofreien oder -armen Zone erklären. Ungefähr jede Stadt überall probiert gerade, zumindest testweise, temporär und partiell Autos zu verbannen.
Bei der KAS-Veranstaltung sagte Thomas Stein vom Deutschten Institut für Urbanistik:
„Es ist wichtig, Alternativen erlebbar zu machen.“
Genau das probieren Städte nun aus.
Für Autofahrer:innen muss eine Stadt mit weniger Wagen genauso bequem und praktikabel sein wir eine Stadt mit mehr, also wie bisher; für Bus, Bahn und Carsharing-Firmen muss es sich rechnen. Ansonsten kann keine Machtdemonstration des Klimawandels wie dieser Tage, keine Unfallstatistik und kein Smog-Bericht uns träge Menschheit von lieb gewonnenen Gewohnheiten trennen.
PS: Ja, ich weiß, da steht gar nichts über E-Mobilität im Text, dabei bauen alle ohne Ende Ladesäulen. Doch ein Parkplatz für ein Auto mit Verbrennungsmotor entspricht einem Parkplatz für zehn Fahrräder entspricht einem Parkplatz für ein E-Auto. Dessen E auch nicht zwangsläufig emissionsfrei aus der Steckdose kommt. Wer wirklich umdenken will, darf gerne E-Busse kaufen, aber E-Autos lösen in der Stadt nicht wirklich das Problem.
PPS: Kein einziges Mal das Wort Pandemie verwendet. Toll.
Urbanes andernorts
Wenn in Deutschland eine Straße autofrei werden soll, fürchten die Läden sich vor Umsatzeinbußen. Meanwhile, back in London, sagt Bürgermeister Sadiq Khan: „The West End has taken a huge hit from Covid over the past 15 months and making our high streets cleaner, greener and more attractive is more important than ever to attract visitors and support businesses.“ Daher wird das Oxford Circus nun autofrei (The Guardian).
Auch Paris setzt auf die Bahn, um Staus zu vermeiden und die Banlieus ans Zentrum anzuschließen. Der Podcast SWR2 Wissen erzählt vom Bau des Grand Paris Express und der „Großbaustelle Paris”.
Nicht jeder Radweg ist ein guter Radweg beweist: Berlin.