Vom Leben, wo andere Urlaub machen
Zu den großen Mysterien der Tourismusindustrie gehörte für mich lange die Frage, wie früh Postkartenfotografinnen und Instagram-Influenzer eigentlich aufstehen müssen? Drei Uhr? Vier Uhr? Oder reicht etwas mit fünf davor, um Broadway, Marienplatz oder Grachtenschluchten ohne die Menschenmassen festzuhalten, die – danke Fernreisende mit Dauerjetlag – Tag und Nacht überbevölkert erscheinen?
Im April bekam ich eine Antwort: Sie warten einfach auf die nächste Pandemie.

Zu früh für solche Witze? Tut mir leid! Doch seien wir mal ehrlich, der darin eingebetteten Bigotterie durchaus bewusst: Sobald man im Urlaub an schönen Orten wie der Altstadt von Dubrovnik / Prag / Venedig / Woeshaltschönist aufschlägt, stellt sich zunächst eine Frage: Was zur Hölle wollen all die anderen Menschen hier?!
Seit Jahrzehnten steigt weltweit die Zahl der Tourist:innen; etwa 1,5 Milliarden kamen im vergangenen Jahr als Reisende irgendwo an. Viele Stadtbewohner:innen haben sich schon lange daran gewöhnt, diesen Unter den Linden und Champs-Élysées komplett zu überlassen. Besseren Kaffee für weniger Geld bekommt man schließlich überall.
Doch mit der Air(BnB)findung vom Urlaub im Wohnviertel, wo es sich für ein paar Tage wie ein:e Ureinwohner:in fühlen lässt, wuchs der Ungemach. Vor einem Weilchen lauschte ich bei einer Diskussion einer empörten Alt-Kreuzbergerin, die eine Nachbarschaft aus Rollbekofferten, mittwochnächtlichem Partylärm, Erbrochenem im Hausflur und zu Gunsten von Spätkaufs verdrängten Supermärkten einfach nicht mehr ertrug.
Was soll ich sagen? Ich konnte sie verstehen – und lebe aus Gründen in Prenzlauer Berg, wo ja angeblich gar nichts mehr geht. Bitte glaubt das weiter! Dankesehr.
Doch dann kam Corona,
„(u)nd plötzlich war die Weserstraße wieder schön. An einem herrlichen, sonnigen Spätnachmittag muss ich plötzlich mitten auf dem Bürgersteig stehen bleiben, den ich auf dem Heimweg normalerweise nur noch mit gesenktem Kopf betrete, um nicht den sinnlosen Konsum und die dumpfen Pinten zu sehen, die blöden Touristen, die jedes Graffito fotografieren, und die E-Roller, die quer über dem Trottoir stehen“,
schrieb Tilman Baumgärtel über seinen Neuköllner Kiez im Juni in der taz. Zwar bewirbt er sich damit für den Toleranzpreis in der Kategorie Bushido. Doch irgendwie hat er ja recht. Am Ballermann wohnt niemand gern.
Zeitgleich tauchten von Krakau bis Dublin ganz neue Wohnungsanzeigen auf, deren Fotoästhetik bekannt vorkam:





Tatsächlich haben sich laut dem hübschen Daten-Angebot AirDNA die Angebote an Unterkünften bei AirBnB mit März von Hamburg bis New York verdünnisiert. Aktuell ist ihre Anzahl im Schnitt in von mir gecheckten Großstädten halb so groß wie im längst vergangenen Zeitalter mit dem Doppelnamen Normalität-Präpandemie. Egal, wie oft das Portal also in der Vergangenheit behauptet hat, dass darüber vorrangig Vollzeitprekäre ihre Hütten untervermieteten, um damit ihre Berufung als ökologisch korrekte Glasbläser:innen querzufinanzieren, während sie selbst im Aschram weilen: Das stimmt einfach nicht. Viele der Unterkünfte sind nur noch eins, nämlich Ferienwohnungen, die dem allüberall angestrengten Mietmarkt ebenso fehlen wie deren urlaubende Kurzzeitgäste dem Viertel als verlässliche Nachbar:innen. Die wir alle spätestens zu schätzen lernten, als im Frühjahr Paul aus der Erdgeschoss-WG für Wilhelmina, ihres Zeichens Risikogruppe, das Einkaufen übernahm.
Nun läuft dieser Streit zwischen den Lobbys der Fraktionen „Auf Reisen“ und „Zu Hause“ schon länger. Manchen Städten nutzen Zwangsverschlaufpause -leerstand nun, um in Vorteil gegenüber dem Luftmatratzen-Magnaten zu gehen:
Prag diente die akut-pandemische Notstandsrechtslage, um sich erstmal einen Überblick über die Anzahl angebotener Apartments sowie das Geld zu verschaffen, welches damit umgesetzt wird.
Paris will die Einwohnerschaft demnächst per Referendum abstimmen lassen, ob die Vermietung an Tourist:innen zeitlich auf ein paar Wochen im Jahr begrenzt werden soll – wie es, nur am Rande, in Berlin bereits üblich ist; allerdings nur theoretisch. In der Praxis fehlt das Personal, die Einhaltung der Einschränkung zu kontrollieren, und ohne Kontrolle ist jede Vorgabe in Berlin nichts wert (siehe Rauchverbot. Siehe Parkverbot. Siehe Bau eines funktionierenden Brandschutzes am BER).
Barcelona hat angekündigt, nun leerstehende Ferienunterkünfte zu konfiszieren und zu günstigen Preisen an sozial Schwächere zu vermieten. Rein rechtlich ist Derartiges in Katalonien seit ein paar Jahren möglich, um faule Norma-Normal-Vermieter zu motivieren, ihren Job zu machen – also zu vermieten. Nun biegt sich die Stadt die Vorgabe im Kampf gegen AirBnB zurecht. Ein weiteres, 2019 dazugestoßenes Gesetz ermöglicht es zudem, die Wohnungen für die Hälfte des Marktpreises gleich ganz zu kaufen. Auch das soll geschehen.
Lissabon mietet derweil seit ein paar Monaten die verlassenen Apartments selbst an und gibt sie an Menschen weiter, die jung sind oder aus anderen Gründen (zu) wenig verdienen. Maximal 450 Euro kostet diese die Ein-Zimmer-Wohnung, maximal 1000 Euro ein Familienhäuschen. Mindestens fünf Jahre laufen die Verträge, was den Ur-Vermietern auf absehbare, in Sachen Tourismus-Wiederbelebung aber komplett unabsehbare Zeit ihre Existenzsorgen nimmt. Rena Segura, also sicheres Einkommen, heißt das System.
Ob sich damit der Wohnungsmarkt entspannen und der Tourismusüberschuss in erträgliche Bahnen leiten lässt? An dieser Stelle gilt es einen gut durchgereiften Klassiker des Journalismus zu zitieren: „Das bleibt abzuwarten“, bzw., in der 2020er-Version: „Das weißt nur Donald Trump“. Er ist schließlich die einzige mir bekannte Person, die alles weiß, sogar das, was noch kommen wird (bzw. sich Derartiges zu behaupten nicht scheut). Das oben kurz skizzierte Beispiel Berlin zeigt, dass es selten so einfach ist, wie gedacht.
Zudem stellt sich die Frage, ob die Zurückforderung des Wohnraums als Hebel ausreicht, um andere Nervfaktoren der Tourismusindustrie gleich mit flurzubereinigen? Der bereits zitierte Kollege von der taz sprach die überall rumfliegenden E-Roller, die Abfüllkneipen und die Billo-Shops ja bereits an.
„In diesem Fall würde ich mich ein einziges Mal darüber freuen, wenn der Markt Angebote bereinigt, die offenbar unter den gegenwärtigen Umständen so unzeitgemäß sind wie Geländewagen von VW. Und bitte darum, dass zur Verfügung stehende Steuermittel nicht für die Rettung eines obsoleten und nachbarschaftszerstörenden Businessmodells verwendet werden. Sondern für ein Wiederansiedlungsprogramm, das die schmerzlich vermissten Schneider, Schuster und Nachbarschaftsbäckereien zurückbringt“,
Natürlich kann man als Stadt all das verbieten. Amsterdam hat das bereits vor Jahren mit der weiteren Ansiedlung von „Nutella-Shops“ im Zentrum vorgemacht, wobei der markenrechtlich geschützte Name einer nussbasierten Schokoladencreme dabei nur synonym für Crêpe mit selbiger, aber auch Postkarten, Pommes und Poffertjes steht.
Aber seien wir ehrlich: Ein Verbot kann selten eine Lösung sein – erst recht nicht, wenn es um Nutella geht. Zudem gehört zur Wahrheit bei aller Genervtheit über Besucher:innen, die begeistern den Hinterhof fotografieren, in dem ich gerade Müll entsorge:
Ich verreise selbst gerne und schau mich dann dort um, wo Leute leben.
Oh mein Gott: WIE GERNE VERREISE ICH SELBST! (Verdammtes Corona!)
Tourismus ist Wirtschaft ist Jobs ist für unsere Städte mittlerweile elementar zentral. (Mehr dazu in Teil 1 dieser Reihe.)
Hat hier jemand Dilemma gesagt? Ganz recht!
Spätestens seit meinem letzten Prag-Besuch treibt mich allerdings etwas um, befeuert durch meine dortigen Erlebnisse:

Yep, da kommt ein Müllwagen vor lauter Menschen nicht durch. Doch wenn die Rathausuhr schlägt, hat man sich als verantwortungsvolle Reisegruppe dort einzufinden, sonst gilt der Urlaub als nicht erlebt.
Hier betrachten derweil alle eine der Betrachtung unwürdige Mauer, weil sie halt gottverdammt im Reiseführer als sehenswert steht:

Tourist:innen en masse, Nutella-Crêpe und Gebäude, die man im Fernsehen viel besser erkennt: Sind es wirklich diese Dinge, die uns seit Jahren immer öfter die Koffer packen lassen?
Ich schlage vor, dieser Frage widmen wir uns angesichts sich ankündigender Komplexität ihrerseits in Teil 3.
Fotos: Zentrale Orte
Urbanes andernorts
Um noch kurz bei den Nachteilen von AirBnB zu bleiben, ein kleiner Gang ins Archiv: Wie ätzend bis kriminell die eben längst nicht mehr Privat-zu-Privat-Plattform auch zu ihren Mieter:innen sein kann, dazu gab es in den vergangenen Monaten zwei lesenswerte Texte bei Wired und Vice.
Wie kam New York zu Subway, Kanalisation und Stromkabeln unter statt an nervigen Masten über der Erde? Schlaue Stadtplaner:innen nutzten Krisen als Chance – und können es wieder tun (Yes, I am looking at you, Corona!), erzählt sehr schön The Atlantic.
Was zur Hölle “friluftsliv” bedeutet, und warum uns das diesen Winter interessieren sollte, steht bei National Geographic.
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