Wider die Stadtnatur
Photo: Dimitar Donovski via Unsplash
Delmenhorst. Weiden in der Oberpfalz. Herne.
Wer sich dieser Tage über die Orte mit den höchsten Zahlen an Neuinfektionen mit dem Coronavirus im Verhältnis zur Bevölkerungszahl in Deutschland informiert, bekommt den Landeskundeunterricht gleich mitgeliefert.
Für euch gegoogelt: Weiden liegt 100 Kilometer östlich von Nürnberg, hat knapp 43.000 Einwohner:innen, die Deutsche Post versendet von dort ihre Sammelbriefmarken und ein internationales Keramikmuseum gibt es auch.
Zum einen ist an dieser Stelle zunächst eine Entschuldigung angebracht, dass wir schon wieder über diese elende Pandemie reden müssen, als mangele es an Gerede darüber. Das ist nicht der Fall. Aber zum anderen denke ich seit einer Woche über einen Satz nach, den gleich folgenden, und nun müssen wir da alle gemeinsam durch.
Zugesandt und unterstrichen wurde mir dieser Ausriss aus der Süddeutschen Zeitung von meinem bislang treuesten Leserbriefschreiber (Grüße! Und vielen Dank!). Meine spontanen Reaktionen darauf lauteten:
a) Ob eine ansteckende Krankheit die Menschheit durch Weiterverbreitung ruiniert, wird an Orten entschieden, wo die Voraussetzungen zur Ansteckung eher gegeben sind als auf Almöhis Alm? No shit, Sherlock!
b) Metropolen sind entschieden gegen Pandemie!
c) Seit wann ist Pandemie eigentlich ein Gesellschaftsspiel mit dem Austragungsort Metropolen, oder wie habe ich diese Formulierung zu verstehen?
Auf Antwort c) bin ich dann gedanklich hängengeblieben. Denn auch wenn ich durchaus angesäuert bin von dem implizierten Vorwurf, dass Städte und ihre Bewohner:innen die größte Verantwortung für die Entwicklungen der kommenden Wochen tragen bzw. dieser nicht gerecht werden. Komplett in Abrede stellen kann man es nicht. Allerdings habe ich den Eindruck, und damit kommen wir kurz auf Weiden in den Oberpfalz (u. a.) und den Einstieg in diesen Newsletter zurück: So einfach ist das alles nicht.
Blicken wir zunächst auf das Spielbrett namens Stadt, und welche Voraussetzungen es mit sich bringt. Es ist voll, lautet die Kurzfassung. Die längere sieht große Dichte beim Wohnen in Mehrfamilienhäusern, Arbeiten in Großraumbürotürmen, Shoppen im nach der Aktivität benannten Center, Feiern in Bars, Rumkommen mit Bus und Bahn, Anstehen vor der Coronatest-Praxis und auch überall sonst. Zwar gibt es mittlerweile ein paar autofreie Straßen und Pop-up-Radwege sowie die Institution Homeoffice. Aber seien wir ehrlich, spätestens seit Juni sind alle Neu-Jogger:innen zurück an der Hantelbank, die Sauerteig-Ansetz-Fraktion kauft ihr Brot wieder ein, und: Es bleibt überall eng.
Interessanter wie entscheidender erscheint mir hingegen, was die Spielfiguren auf diesem Feld treiben. Denn nur weil man dicht zusammenlebt, steckt man sich nicht automatisch an.
– Wir unterbrechen für einen Werbeblock: Masken! Masken! Bitte tragt Masken! Vielen Dank. –
„Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free, / The wretched refuse of your teeming shore. / Send these, the homeless, tempest-tossed to me. / I lift my lamp beside the golden door.“
So steht es auf der berühmten Tafeln im Sockel der Freiheitsstatue zu New York, und so passt es auch über jedes Stadttor, Ortseingangsschild oder Flughafengate seit Erfindung des Ersteren und dem dazugehören Slogan „Stadtluft macht frei“.
In Städten sammeln sich alle, die ungestört mehr oder weniger, die anders und wo anders, die nicht oder die besonders auffallen wollen, um dort auf Menschen zu treffen, denen es ebenso geht. Je größer die Stadt, desto größer auch die Seligkeit, in der ich dich in deiner und du mich in meiner Façon werden lässt und lasse. Doch diese gerne fälschlicherweise mit Ignoranz verwechselte Toleranz gerät dieser Tage aus dem Gleichgewicht.
Mir doch normalerweise egal, ob du Adiletten für das richtige Schuhwerk zum Opernbesuch hältst – gerade wäre es aber begrüßenswert, dass die Maske sitzt.
Frühstück um 22.35 Uhr? Geht klar – wenn du es aktuell in aller Frische draußen vor der 24-Stunde-Café-Tür einnimmst.
Tanzen? Nackt? Am Mittwochvormittag? Immer gerne – solange du bis auf Weiteres auf Abstand bleibst.
Großstädter:innen leben in großen Städten, damit sie
a) von allen Angeboten profitieren können, für die es einer gewissen Nachfrage und dafür entsprechender Dichte bedarf. Sie wollen ihre Abende nicht im privaten Hobbykeller, sondern im Schmutzigen Hobby* verbringen.
*Name einer Berliner Szene-Bar, wobei ich mich frage, wer eigentlich beschlossen hat, „Szene“ als Synonym für LGBT-Treffs zu nutzen?
b) dort machen können, was sie wollen, ohne dass andere darüber ein Urteil fällen oder selbst aktives Mitglied in der großen Jury des Miteinanders werden zu müssen.
Womit wir zwei zentrale Eigenschaften der Metropolitaner:innen ausgemacht haben, gegen die und damit ihre Natur zu handeln die Zeiten erfordern. Um kurz persönlich zu werden: DAS MACHT MICH SO WÜTEND. DAS MACHT MICH SO MÜDE.
Allgemeiner formuliert: Das ist ein Problem.
In Weiden in der Oberpfalz scheint ein etwas zu eng und unmaskiert untereinander agierendes Eishockeyteam die hohen Fallzahlen zu erklären. Die Sportler kann man nun schön isolieren, und ihre Freundes- und Familienkreise gleich dazu. So läuft das gerade, in Metropole, Stadt und Land. In ersterer kommt bei einem ähnlichen Vorfall jedoch erschwerend die auffallende Kontaktfreudigkeit und Mobilität der dortigen Bewohnerschaft sowie ihr Hang hinzu, sich weder um Konventionen noch Regeln zu scheren.
Das ist es, was mich als Städterin an diesem Satz mit den entscheidenden Metropolen so nervt wie sonst nur das Abstandhalten, zu Hause Bleiben und ständig über das Handeln meiner Mitbewohner:innen Urteilen: Er stimmt.
Eine Pandemie ist dem System Stadt zuwider.
Die Stadt macht, was sie machen muss, und rebelliert. Das ist ihr Job, dafür wurde sie erfunden (u. a.).
Blöd nur: Die Pandemie juckt das nicht.
Urbanes andernorts
Vergangenheit wirkt irgendwie näher, wenn sie in Farbe statt schwarz-weiß daherkommt. Beweisstück A sind diese tollen Straßenszenen aus New York City anno 1911.
Einen kleinen Lese-Ausflug in den Corona-Alltag in Paris, Madrid und Oslo bietet die taz.
So wahllos, wie manchen der Indikator 50 Infektionen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen erscheint, wirkt für andere die Beschränkung auf 50 km/h innerorts. Wären 30 km/h nicht sinnvoller, von wegen Luftverschmutzung, Unfälle und so? Nö, meint Scheuers Andi, seines Zeichens Verkehrsminister, steht im Tagesspiegel.
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