Wollen wir weiterhin in Städten wohnen?
Möchtest du nicht mal Wrestling ausprobieren?
Möchtest du im nächsten Leben als Dackel auf der Krawatte von Alexander Gauland wiedergeboren werden?
Möchtest du gerne mit einer Boyband namens „Die Coronis“ durch floriansilbereiseneske Samstagabendshows des MDR ziehen?
Die Liste an Fragen, die ich mir in meinem Leben nicht zu stellen vorhatte, ist sehr lang. Darauf auch, um zum Punkt zu kommen:
Möchtest du weiterhin in einer Stadt leben?
Kleiner Spoiler: Ich? ICH? - Pssst, ja, Du, genau! - Ja! Wo zur gottverdammten Hölle denn sonst?
Da sich angesichts unserer zum Bleiben gekommenen Freundin Corona diese Frage jedoch aufdrängt, sehe ich ihre Erörterung als guten Auftakt, um nach der Pandemie-Pause den Newsletterbetrieb wieder hochzufahren. Schließlich war es mit Wuhan eine große Stadt mit der dazugehörigen Anbindung an die Welt, in der das Unglück seinen Anlauf nahm. Und es sind große Städte wie New York, Sao Paolo, aber auch Berlin, wo die Fallzahlen um einiges höher sind als drum herum auf dem platten Land.
Die Gründe dafür scheinen offensichtlich. Denn als zentrale Orte zeichnen sich Städte unter anderem durch folgende Faktoren aus:
Sehr viele Menschen auf einem Haufen
Große Dichte
Permanente Kontakte zu Unbekannten
Teilen von Wohnhäusern, Verkehrsmitteln, Arbeits-, Essens- und Erholungsorten
Größte denkbare Vernetzung mit der Welt
In anderen Worten:
Städte sind das tollste, was jemals für Menschen mit Bock auf Austausch mit anderen Menschen und Angebote, die von Theatern über Schwimmbäder bis hin zu Nachtbussen ein Mindestmaß an Nachfrage erfordern, erfunden wurde.
Städte sind aber auch das gelebte Gegenteil von unterbrochenen Infektionsketten und sozialer Distanz. Denn auch wenn manche freundlichen Mitbürger:innen mit Maskenallergie und Umarmungsenthusiasmus das vehement verneinen: Der 2020-Evergreen „Immer noch Pandemie“ steht bis auf Weiteres auf Platz 1 der Charts.
Und nun? Eremit:in werden? In ein Stück sibirische Steppe oder Brandenburger Uckermark investieren, wo der Abstand zum nächsten Haushalt nicht in Metern, sondern Kilometern gemessen wird? Auf Gemüse aus dem eigenen Garten setzen und hoffen, dass die Ausbaumaßnahmen in Sachen 5G- und Glasfasernetz das Homeoffice schon möglich machen?
Kann man natürlich machen. Muss man aber nicht. Denn es gibt gute Gründe, weiterhin Städter:in zu bleiben. Vier davon habe ich mir mal ausgesucht für die folgende Präsentation.
Infrastruktur
Schonmal überlegt, wie weit es vom eigenen Bett bis zum nächsten Beatmungsgerät ist? Die Frage klingt hart, ist aber berechtigt, wenn man sich mal mit medizinischer Versorgung auf dem Land auseinandersetzt. Es ist einfach so, dass Menschen gebündelt einfacher und schneller zu versorgen sind als in geringer Dichte über eine große Fläche verteilt.
Dieser Faktor gilt für alle Angebote, die sich unter dem schönen Beamtenausdruck Infrastruktur zusammenfassen lassen. Ohne weitere Interessent:innen im Einzugsgebiet machen weder Krankenhäuser noch Universitäten noch Möbelhäuser Sinn. Auch kein Café, kein Museum oder Theater, nicht mal ein Autobahnanschluss rentiert sich, wenn niemand ihn nutzt.
Jetzt kann man natürlich sagen: Kultur? Konsum? Wissenschaft? Alles überflüssig. Steinzeitmenschen hatten es in ihren Höhlen auch ohne schön. Aber wir sprechen uns wieder, wenn zwei Wochen Quarantäne einem den Gang vor die Tür unmöglich machen und keine Nachbarschaft und keine Verwandten im Umfeld zur Verfügung stehen, um mal eben den Ausflug in den Supermarkt oder die Apotheke zu übernehmen.
Umwelt
Auch wenn das in den vergangenen Wochen ein wenig in den Hintergrund getreten ist: Diese Sache mit dem Klimawandel ist weiterhin aktuell. Angesichts von Beton und Stein und Glas erscheint das zwar seltsam, aber das Leben in der Stadt ist leichter mit kleinerem ökologischen Fußabdruck zu absolvieren als sein Pendant auf dem Land. Die nächste Drogerie ist immer nur einen Fußmarsch entfernt, nachts fährt einen die Bahn und nicht der persönliche SUV nach Hause, und auch die Energiebilanz einer Zwei-Zimmer-Wohnung ist sehenswerter als die eines alleinstehenden Einfamilienhaustraums.
Innovation
Es gibt Leute, die sind für sich allein so genial, sie brauchen für neue Ideen nur sich selbst und eine exzentrische Frisur (ganz recht, Ludwig van Beethoven und Franz Liszt, ich denke an euch). Aber die meisten weltbewegenden Innovationen werden in Gemeinschaftsleistung vorangebracht. Die eine hat die Idee, der nächste eine zweite, die Dritte bringt das Geld und Nummer vier kennt sich mit Produktionsbedingungen und Zulieferverträgen aus. In der Kantine, beim Feierabendbier, per Zuruf im Labor: Ideenaustausch und Ideenweiterentwicklung brauchen physische Nähe. Und die findet sich im Konzept Stadt.
Special Guest: Soziales Miteinander
Wer sich jemals mit der unfassbaren Furcht vor Fremden etwa in der sächsischen Provinz auseinandergesetzt hat, der erkennt ihren größten Antrieb in dem Umstand, dass Andersartigkeit dort wirklich fremd ist – im Sinne von: Sie kommen im Alltag kaum vor. Zwar sind auch bunte Städte nicht gefeit vor Hass auf alles, was nicht genau so ist wie man selbst. Doch die Toleranz ist dort größer, wo Normalität alle denkbaren Facetten trägt. Wenn wir an lustigen Konzepten wie Gesellschaft und Demokratie festhalten wollen, in denen Gemeinschaft und Solidarität zentrale Rollen spielen, werden wir als in uns selbst eingeigelte Eremit:innen nicht glücklich werden.
Womit wir zum Anfang zurückkommen können und zu einem Punkt, den ich aus Spannungsbogensgründen bislang verschwiegen habe: Ja, manche Städte sind stärker von Corona betroffen als kleine Gemeinden auf dem Land. Doch mit Singapur, Hongkong, Soul oder Tokio gibt es Metropolen, die es durchaus geschafft haben, die Zahlen unten zu halten. Stadtsein allein ist nämlich nicht zwangsläufig Nährboden einer Pandemie.
Viel sardiniger als auf Manhattan kann man sich städtisches Leben kaum vorstellen. Doch besonders hohe Covid-Raten zählte New York City in seinen lockerer gestalteten Vierteln wie Queens oder der Bronx. Die Gründe nennt Richard Florida in Bloombergs Citylab:
Simply put, there is a huge difference between rich dense places, where people can shelter in place, work remotely, and have all of their food and other needs delivered to them, and poor dense places, which push people out onto the streets, into stores and onto crowded transit with one another.
Unsere Städte sollten sich wandeln, um Ansteckungsrisiken zu minimieren. Masken können helfen, mehr Platz für Fußgänger:innen und Restaurant-Besucher:innen im öffentlichen Raum, aber auch regelmäßig fahrende Busse und Bahnen, sodass selbst zu Stoßzeiten Platz für Abstand bleibt. Aber wenn wir eh gerade dabei sind, Dinge anzupassen – warum bei der Gelegenheit Städte nicht auch sozialer denken? Alleine angemessene Gehälter und bezahlbare Mieten auch im Zentrum könnten bisherige Pendel-Verkehre komplett verändern.
Es bleibt also spannend. Es gibt viel zu tun. Und eine dritte Floskel fällt mir bis zur nächsten Ausgabe sicher auch noch ein. Denn vielleicht war 2020 doch nicht der schlechteste aller denkbaren Augenblicke, um einen Newsletter über Städte zu starten. Zusammenfassend lässt sich die zu Beginn formulierte Frage nämlich klar beantworten, und zwar mit: Ja!
Foto: jw
Urbanes andernorts
Apropos: Mehr Fahrradwege, mehr Platz für Café-Tische auf den Bürgersteigen, alles gut und schön. Aber nur solche Lehren aus der Corona-Krise für Städte zu ziehen, gehe am eigentlichen Problem, der sozialen Ungerechtigkeit, vorbei, meint Curbed.
Das Leben in Städten ist dank ihrer Dichte sogar gut für die Gesundheit, zeigt das Citylab am Beispiel New York City.
Gibt es auch Berichte aus Städten ohne Corona-Bezug? Wenig, aber: Ja! Die Zeit hat in Shenzhen erkundet, wie China vom Billigproduzenten zur Kopier-Maschine zur Vorsprung-durch-Technik-Nation wurde.
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