Wer sich dieser Tage um den Gartenzwerg in Gold als Preis für Deutschlands besten Deutschen bewerben möchte, der sollte drei Sachen draufhaben: Abstand Halten. Maske Tragen. Weihnachtsshoppen. Diesen Eindruck vermitteln zumindest in Medien zur Wort kommende Wichtigmenschen, und viele aktuellen Corona-Vorgaben gleich mit.
Zu retten gilt es bei dieser Mission, die wir spaßeshalber als gesellschaftlichen Kraftakt bezeichnen wollen, nicht etwa nur den stationären Einzelhandel, wie man als Auskenner:in von Laien als Geschäfte bekannte Institutionen nennt. Vielmehr geht es gleich um das Überleben der Innenstädte. Wenn ihr heute nicht Berge an Geschenken in der Fußgängerzone kauft, steht dort nächste Woche alles leer, und ab übernächster bekriegen sich Ratten und Gangs. Dann folgt die Zombie-Apokalypse.
An dieser subtilen Überspitzung meinerseits mag man merken: Ich teile diese Einschätzung nicht. Warum? Das erläutere ich gern.
Zum einen gehört zur Wahrheit die Analyse, für welche Läden wir unsere Gesundheit riskieren sollen. Sie heißen H&M und C&A, Ross- und Fielmann, Karstadt, Tchibo, TK Maxx, Saturn und Ernsting's family. Sowie einige Buch-, Kinder- und Blumenläden, in denen der oder die Inhaber:in mit Freude und individuellem Angebot den Lebensunterhalt verdient. Letztere bilden jedoch die Minderheit, seitdem vor Jahrzehnten das Konzept der Ketten und Filialen Einzug hielt. Natürlich können auch dm-Mitarbeiter:innen mit Herzblut bei der Arbeit sein, und auch sie haben ein berechtigtes Interesse an ihrem Joberhalt. Aber zur Bestandsaufnahme gehört diese Differenzierung dazu.
Zum anderen werden in einem nicht zu unterschätzenden Teil der Geschäfte Dinge feilgeboten, die blutige Kinderhände in Bangladesch nähten, und/oder die nur eine Überflussgesellschaft braucht. Für den Transport von Bananen ist keine Dose in Bananenform vonnöten, ebensowenig wie 30 Paar Jeans pro Mensch, und sogar die pro Jahr im Gesicht verteilbare Menge an Creme ist begrenzt.
Wir kaufen zu viel unter sozial und ökologisch bedenklichen Bedingungen Hergestelltes. Das kann nicht so bleiben. Wer an den Klimawandel glaubt, muss auch das akzeptieren, auch wenn das schwer fällt, und, viel schlimmer: Es Gewohnheiten zerstört.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir alle internalisiert und befördert, dass unsere Innenstädte ihre Daseinsberechtigung aus Konsum beziehen. Nur wo das Smartphone dank Google Pay heißläuft, ist die Stadt lebendig und das Leben bunt. Die Grundanlage dafür liegt schon unterm Marktplatz des Mittelalters, wo man auch zum Erwerb von Äpfeln, Mehl oder Lederwaren zusammenkam. Doch seitdem ist die Sache etwas, nun ja: eskaliert.
Allerdings kaufen mittlerweile mehr Menschen Kram im Internet als in Geschäften vor Ort. Diese der Anschaulichkeit halber mal als Karstadt-Krise bezeichnete Entwicklung ist älter als Corona. Die Pandemie kam in diesem Jahr nur verschärfend hinzu.
„Das in normalen Jahren so umsatzstarke Weihnachtsgeschäft könnte 2020 für bis zu 50.000 Händler in die Insolvenz führen“,
erklärte Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland in einer Pressemitteilung zum Nikolaussonntag (verkaufsoffen, in Berlin zumindest). 45 Prozent der Klamottenläden sähen sich aufgrund der Coronakrise in existenzieller Not. Über alle Handelsbranchen hinweg liege der Wert bei 35 Prozent.
Es kann also tatsächlich sein, dass sich unsere Innenstädte in den kommenden Monaten stark verändern, weil Zara, Esprit und Mediamarkt ausziehen. Dass dadurch aber das Konzept eines belebten Stadtzentrums komplett aufgeben werden und wir alle uns in Vororte mit Atombunker im Garten zurückziehen müssen, sehe ich nicht.
Bevor sich in der zentral gelegenen Fußgängerzone nur noch große Ketten die Mieten leisten konnten, konnte man dort – völlig verrückt! – auch wohnen, zur Schule gehen, Bücher ausleihen, im Jugendclub abhängen, im Club feiern, lecker essen. Was spricht dagegen, dass das wieder so wird?
In der FAZ erschien im September ein schöner, leider online nur gegen Geld verfügbarer Artikel über Recklinghausen. Dort ist heute die Stadtbibliothek, wo früher C&A residierte, und den alten Karstadt baut gerade ein Investor um. Das Erdgeschoss soll weiterhin zum Einkaufen dienen. Doch darüber ist viel Platz für Büros, eine Kita, Seniorenwohnungen und ein Hotel. Andere fitte Lokalpolitiker an anderen Orten versuchen, Ähnliches zu befördern. In Köln-Porz wurde etwa der alte, unten zu bewundernde Hertie abgerissen und Platz geschaffen für neue Häuser mit Geschäften, Wohnungen, Gastro und einem Pfarrbüro, die gerade entstehen.
Die Vorstellung, dass auf dem Spielplatz am Alexanderplatz Kinder turnen und im Alexa Alte wohnen – ich finde sie gar nicht so schlecht. Zumal das Besteigen eines Klettergerüsts auch ohne Eintrittsgeld und damit für alle möglich ist. Hipster freuen sich über Food Markets. Andere spielen gerne auf Sandplätzen Boule. Angebote, um zusammenzukommen und von mir aus dabei auch ein wenig Geld auszugeben, finden sich genug.
Dafür gilt es allerdings Diverses zu akzeptieren. Etwa, dass sich etwas verändert, und Veränderungen mögen viele nicht. Aber ein anderes Hobby als Shoppen ist leichter zu finden als eine zweite Erde, deren Klima noch funktioniert. Zudem müssen Vermieter einsehen, dass die Kundenmassen der Zeiten vor dem Internet runtergehen und dabei zu erzielbare Miethöhen mit nach unten nehmen.
Stadtforscher Thomas Krüger erklärte im Juni bei tagesschau.de:
„Wenn die Mieten sinken, dann haben Geschäftsmodelle eine Chance, die noch nicht so stark sind wie die großen Ketten - zum Beispiel Fusionskonzepte zwischen Gastronomie, Kunst, Verkauf und Büro.“
In einer solchen Entwicklung sieht er
„auch eine Chance, klimagerechter zu leben: Nämlich mehr vor Ort, unter Nutzung der Nähe und ohne diese großräumige funktionale Teilung von Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Produktion - alles möglichst weit auseinander und alles mit irgendwelchen rollenden Fahrzeugen verbunden.“
Das Modell der 15-Minuten-Stadt, in der alles von allen zur Fuß, per Rad oder Bahn in einer Viertelstunde erreichbar ist, und nach dem etwa Paris strebt, hatten wir hier in anderem Zusammenhang schon. Das mag komisch klingen für alle, die zum Einkaufen in die Fußgängerzone, zum Arbeiten in den Büroturm und zum Wohnen an den Stadtrand fahren. In intakten Altbauvierteln ist das aber schon heute wie vorgestern: normal. Auch das ein Grund, weshalb ich den Prenzlauer Berg trotz allem, was Menschen, die nicht hier wohnen, darüber zu wissen meinen, sehr mag.
Natürlich fehlt es bei diesen grob geschnitzten Vorschlägen noch an Klärung von Details. Den Konsum in gleicher Menge ins Netz zu verlagern und von unterbezahlten Paketbot:innen einzeln verschweißt bis vor die Haustür karren zu lassen, sollte etwa nicht Teil der Lösung sein.
Doch hier geht es erstmal ums Prinzip und darum, einen Gegenpol zu setzen zum Tanz ums goldene Weihnachtsgeschäft, von dem ehrhafte Bürger:innen sich nicht von einer tödlichen Pandemie abhalten lassen sollten.
Wer sich lebendige Städte wünscht und dabei an Schlangen vorm Mediamarkt denkt, der sollte seinen Kopf dringend aus Maggie Thatchers Handtasche ziehen. Das Weinachtsshopping ist tot? Blöd. Aber dafür lebt Oma, und es lebt auch die Stadt.
Urbanes andernorts
Mit dem Skateboard durch ein lockgedowntes New York führt uns die New York Times – supersehenswert!
Die RBB-Doku “Eine Welt ohne Beton” war hier schon empfohlen. Ihre MDR-Freundin “Eine Welt ohne Autos” lohnt sich auch.
… und der Preis für den beschissensten Radweg aller Zeiten geht an: Chicago! (Quelle: Twitter)
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Die Innenstadt lebt
"Aber ein anderes Hobby als Shoppen ist leichter zu finden als eine zweite Erde, deren Klima noch funktioniert" - Mein Satz des Tages!