Die Rache der Grünen Wiese
Wir müssen noch einmal über diese Heu-Knäule reden, von denen das Internet gerne möchte, dass wir sie Steppenläufer nennen. Aber wer bitteschön zählt das zu seinem aktiven Wortschatz bzw. ist das nicht ein Charakter aus Lucky Luke? In Western als ihrer natürlichen Umgebung ist von Tumbleweed die Rede. Ja, genau, pssst, du, vom Wind durch verlassene Ortschaften getriebenes Gestrüpp, genau du, dich meine ich.
Was ich eigentlich sagen wollte: Deutsche Einzelhandelsvertreter:innen werden nicht müde, deren Auftreten als Zukunft unserer Innenstädte vorherzusagen (wir sprachen an dieser Stelle bereits davon). Die Schuld dafür schieben sie der praktischerweise gerade bereitstehenden Pandemie in die Schuhe, und die verdient jeden Hass und Häme, diese aber nicht, zumindest nicht nur.
Als Beweis, dass dies nicht als meine rein private These, sondern durchaus realitätsgestützt daherkommt, möchte ich nun Nigel Cooke zitieren, Stadtrat für Stadterneuerung und Wohnen in Stockton-on-Tees (bleiben Sie dran, das ergibt gleich noch Sinn). Im vergangenen Februar und damit ante Corona-Lockdown erklärte er:
“I think people are starting to realise that high streets have changed forever and the days of them being lined with big name shops are over. We’ve seen it in Stockton with the likes of M&S, Debenhams and H&M all going.
But it’s all about how we respond.
We all enjoy reminiscing about the golden era when every town had a big department store but we can’t turn back the clock. We need to take the bull by the horns and get on with reshaping Stockton for the modern age.
If we do nothing we’ll just see a growing number of empty shops.“
Bähm. Wenn es nicht zu aufdringlich wäre, würde ich gerne jeden zweiten Satz dieses schlauen Mannes fetten sowie auf Kissen gestickt vor der FDP-Zentrale verteilen. Denn anders als in offenbar jeder deutschen Stadt mit angeschlossener Fußgängerzone hat Stockton-on-Tees bemerkt, dass sich vor einziger Zeit ein mysteriöses Wesen namens Internet entwickelt und seinen Kumpel Online-Shopping mitgebracht hat, was in Kombination nicht folgenlos für Läden vor Ort bleibt.
Stockton-on-Tees liegt zwischen Newcastle upon Tyne und Saltburn-by-the-Sea im Nordosten Englands (echt England, nicht UK), zählt gut 80.000 Einwohner:innen, ist Heim von Werften, Chemie- und Stahlindustrie und bietet sonst wenig Grund, es außerhalb von Stockton-on-Tees zu kennen – zumindest bisher. Denn was die Stadt aktuell plant, ist alle Achtung in aller Welt wert.
Wie der freundliche Herr Cooke vom Zitat bereits erwähnte, leidet Stocktons High Street unter Leerstand und, das sei ergänzt, ein paar Bauunfällen. Dazu zählt das Castlegate Shopping Centre, ein langer Bau aus den 1970ern, der den Blick auf den dahinterliegenden Fluss Tees komplett verdeckt. Der Hotelkomplex daneben ist auch nicht gerade der schönste im Königreich. Wer sich rasch selbst vor Ort umsehen möchte, kann das bei Google Street View tun.
Da die Gebäude unter akuter Unternutzung bei absurd zentraler Lage leiden, hat die Stadt beide im September 2019 für knapp 14 Millionen Pfund gekauft und danach die Bürger:innen gefragt, was werden solle. Ein paar Ideen hatte sie schon mitgebracht.
Vor ein paar Jahren hatte Stockton ein ebenfalls den Weg aller derartigen Einrichtungen gehendes, also unterbesuchtes Kaufhaus erworben, damit sich dort wechselnde, junge Unternehmen unter fachlicher Unterstützung an der Kundschaft ausprobieren können. Etwas Ähnliches wäre auch für Center und Hotel in Frage gekommen – oder alternativ der Abriss und eine Umgestaltung zum Park.
Und nun dürfen alle dreimal raten, wofür sich die Mehrheit in Stockton entschieden hat. (Ja, ich weiß. Zweimal raten reicht in diesem Fall aus.)
Als das Einkaufszentrum vor 50 Jahren errichtet wurde, war der Tees noch ein stinkiger Fluss, in dem vor lauter Industrieabfällen kein Fisch mehr schwamm. Den wollte damals vom Marktplatz aus wirklich niemand sehen (oder riechen). Doch mittlerweile hat sich das zum Glück geändert, und nun trifft eine Klappe zwei Fliegen zugleich: Stockton entledigt sich eines Teil der zu viel vorhandenen Verkaufsflächen und öffnet zudem sein Stadtzentrum zum Ufer, dessen Promenade durch den terrassenartig angelegten Park zugänglich wird. Vorgesehen sind zudem Platz für Restaurants und Cafés, ein Spielplatz und ein großes Rondell für Veranstaltungen unter freiem Himmel.
Die vierspurige Straße, die derzeit noch am Fluss entlang läuft, wird auf zwei Spuren verkleinert und streckenweise in einem Tunnel versteckt, sodass man zu Fuß vom Marktplatz bis an den Tees kommt. Außerdem sind zwei Neubauten auf der Fläche geplant, in denen die Bibliothek und Teile der Verwaltung unterkommen, die sich derzeit auf diverse Orte über die Stadt verteilt.
Selbst für die verbliebenen Mieter im Castlegate Shopping Centre ist Verlieren nicht bitter. Denn quer über die Straße liegt das Wellington Square Shopping Centre, wo ebenfalls viel leer steht. Diese geplante Konzentration von Läden belebt im Idealfall aller Geschäft.
In einem ersten Schritt will die Stadt 40 Millionen Pfund aus diversen Töpfen investieren. Für das kommenden Jahr ist der Abriss der beiden Gebäude geplant. Bis 2025 sollen Park und Neubauten fertig sein.
Um nochmal Nigel Cooke zu zitieren:
“It’s the logical thing to do.”
Statt zu weinen und zu beten, dass bitteschön alles so bleibt, wie es schon immer war (zumindest seit Erfindung des Kapitalismus bzw. des Konzeptes Einkaufsstraße), ergreift Stockton die Initiative, holt sich Flächen zurück und bemüht sich um ein lebendiges Zentrum, das auch ohne den kompletten Fokus auf Konsum funktioniert.
Wie toll ist das denn? Und das nur zum einen. Zum anderen rächt der geplante Uferpark all die freien Flächen, die seit Jahrzehnten Einkaufszentren weichen müssen. Allüberall haben diese Biester sich ausgebreitet und von Grünen Wiesen bis zu Gasometern alles übernommen.
Letzteres ist kein Witz, sondern bittere Realität in Wien:
Nun schlägt die Grüne Wiese zurück. Ich begrüße das.
Urbanes andernorts:
Deutschland ist mit seinen Problemen nicht allein I: Auch in Großbritannien vergammeln die Brücken bis zur Einsturzgefährdung, und die Verwaltung bekommt es nicht auf die Kette, sie rechtzeitig zu reparieren, was für viele Londoner:innen nun die Themse unüberwindbar macht (Guardian).
Deutschland ist mit seinen Problemen nicht allein II: Auch in den USA fehlt oft die Anbindung ans (schnelle) Internet, und nun behelfen sich manche Städte selbst (Citylab).
Mein Lieblings-Tweet der Woche:
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