Der Tag, an dem die Ideen des Homeoffice und der sozialen Distanz ihren Einklang verloren, war der, als der Amazon-Bote von meiner Heimarbeit erfuhr. Wie alle unterbezahlten und überarbeiteten Teilnehmer:innen im großen Lieferspiel braucht er ein Backup, wo es sich immer zu klingeln lohnt, wenn die direkte Zustellung nicht gelingt. Dank Dauer-Homeoffice weiß er nun: Das ist hier.
Auf seinen Besuch folgt im Laufe der nächsten Tage dann die Nachbarschaft. In einem Altbaueckhaus mit zwei Seitenflügeln lernt man so jeden Tag neue Menschen kennen, die sich über die Ankunft ihres Katzenstreus, Fahrradhelms oder Staubsaugers freuen. Dabei sollte ich mich nicht beschweren, denn die echten Pechvögel sitzen in der WG im Erdgeschoss. Studenten. Mehrere. In einer Wohnung. Im Erdgeschoss. Für den DHL-Boten muss der Tag, an dem er diese Kombination entschlüsselte, wie die Wahl eines CSU-Verkehrsministers für BMW-Aktionär:innen gewesen sein. Selbst wer zu Hause weilt, holt seine Pakete folgerichtig später unten ab.
Wie in vielen Mietshäusern mit vielen Menschen kommen bei uns jeden Tag nicht ein, nicht zwei, sondern ungefähr 15 Lieferdienste vorbei.
DHL, DHL Express und Amazon.
UPS, dpd und Hermes.
Wolt. Lieferando. Amazon Fresh. Gorillas. Bring. Flink. Rewe. Bringmeister. Flaschenpost. Frischepost.
Heutzutage könnten die Fantastischen Vier ihren alten Hit komplett mit der Logistikbranche bespielen.
Der Drang zum Bestellen wächst seit Jahren; Kumpel Corona hat allerdings noch einmal den Turbo gezündet. In seinem aktuellen Online-Monitor diagnostiziert der Handelsverband Deutschland (HDE) für 2020 einen Zuwachs des Umsatzes im Online-Handel um 23 Prozent auf 73 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr. Das entspricht gut 12 Prozent vom Gesamtumsatz.
Nun ist es mittel überraschend, dass Zalando und Notebooksbilliger explodieren, während H&M und Media Markt im Lockdown weilen. Doch so langsam trauen sich die Besteller:innen auch in einem Bereich an den Laptop, der vielen aufgrund mangelnder Alle-Tomaten-Anfass-Möglichkeit im Internet bislang suspekt war:
„Mit einem Zuwachs von rund 60 Prozent treiben Lebensmittel das Wachstum im Onlinehandel erheblich an. Das Wachstum ist fast dreimal so hoch wie im Nonfood-Bereich“,
schreibt der HDE-Online-Monitor. Zwar machten Discountern und Supermärkte 2020 gerade einmal zwei Prozent ihres Umsatzes online. Aber, wie gesagt: Das ist ein Zuwachs gegenüber 2019 um 60 Prozent.
Gegenüber dem HDE gaben 20 Prozent aller Nutzer:innen an, im vergangenen Jahr das erste Mal online Lebensmittel geordert zu haben. Über die Hälfte kann sich vorstellen, das in Zukunft öfter zu tun als bisher.
Dass die Verlagerung von Besorgungen ins Netz auch die Städte verändert, ist für Forscher das Basecap unter den alten Hüten: nicht komplett aus der Mode, aber es hat in der Rapper-Community massiv an Popularität eingebüßt, seitdem Renter:innen damit zum Golfen gehen.
Schon seit Jahren wird über spezielle Ladezonen für die vielen Lieferfahrzeuge diskutiert. Manche Logistiker schaffen zentral gelegene Verteilstationen („Hubs“), von denen aus sie mit Fahrrädern die letzte Meile bewältigen lassen. Wohnungsbauunternehmen stellen neben den Briefkästen auch welche für Pakete auf. Amazon betreibt seine Locker; DHL seine Packstationen, und natürlich haben sich mittlerweile Startups der Misere angenommen und kooperieren mit Spätis oder Kiosken und betreibt sogar eigene Shops, deren Daseinsberechtigung die Annahme von Warenlieferungen ist. Derweil überlegen Städte fieberhaft, was sie mit den dem Leerstand geweihten Gewerbeflächen in den Fußgängerzonen in Zukunft anfangen wollen (wir sprachen zuletzt hier davon).
Wenn sich nun auch noch unsere Kartoffeleinkaufsgewohnheiten wandeln, verändert das die Lage nochmal enorm.
Ich liebe Affen. Sie sind schlau und putzig und lustig und könnten beispielsweise Berichte aus Gesundheitsämtern äußert zuverlässig an die richtigen Stellen faxen, wenn man sie entsprechend einwiese und der Tierschutz nicht gegen Affenarbeit wäre. Entsprechend wohlgesinnt bin ich einem Angebot, das vor knapp einem Jahr unter dem Namen Gorillas in Berlin aufploppte und mittlerweile in 13 deutschen und einigen niederländischen Städten sowie in London und Paris firmiert.
Die Idee ist simpel und als Liefer-Späti zusammenzufassen: Über ein App lassen sich aus einem begrenzten Sortiment Lebensmittel und Drogerieartikel zu derzeit supermarktähnlichen Preisen ordern, und gegen knapp zwei Euro Liefergebühr ist alles dank E-Radel-Flotte in zehn Minuten da. Investoren werden gerade nicht müde, das Geschäftsmodell mit Millionen zu überhäufen. Nach- und Mitahmer wie Bring oder Flink fluten ebenfalls den Sofortliefermarkt.
Für Kund:innen mit spontanem Wildbrokkolibedarf und Aerosolangst in der Lidl-Schlange ist das eine super Sache. Für die Nachbarschaft eines Gorilla-Lagers sieht das aber anders aus. Denn das Versprechen der schnellen Lieferung erfordert eines: räumliche Nähe. Lager für derartige Dienste können daher nicht am Stadtrand, sondern müssen mitten unter uns weilen. In Kreuzberg hat sich mittlerweile eine Bürgerinitiative gebildet, die den permanenten Anlieferverkehr ihrer Gorillas-Zentrale mitten im Wohngebiet ebenso wenig erträgt wie den Stau der Radel-Flotte, die beim Warten auf den nächsten Einsatz den kompletten Gehweg blockiert.
Gut, das ist Kreuzberg, da bürgerinitiativen sie sogar, wenn eine Aldi-Filiale zu schließen droht. Aber ich muss zugeben, dass ich mittlerweile auch große Bögen um die Prenzlauer Berger Gorillas-Dependance schlage, weil soziale Distanz und 30 zwischen gerade gelieferten Paletten Biobrause und ihren E-Bikes wartende Radler:innen einfach nicht zusammengehen.
Damit sich derartige Dienste rechnen, ist eine gewisse Dichte an dort lebenden Menschen elementar. Wo diese vorhanden ist, ist der Platz aber bereits jetzt begrenzt und umkämpft. Die Debatte, wie gerecht es ist, einen privaten PKW auf städtischen Straßen abstellen zu dürfen, ist gerade erst entfacht und noch nicht entschieden. Da sorgen Angebote wie Gorillas zusätzlich zum sich ausweitenden Online-Handel mit der damit zusammenhängenden Liefer-Logistik für weiteren Druck.
Hinzu kommt die Tatsache, dass hier Wirtschaftsunternehmen vom öffentlichen Raum profitieren, um private Profite zu machen. Jedes Café muss seine Tische, jede Baustelle ihr Gerüst auf dem Bürgersteig bei der Kommune anmelden und für die Nutzung der Fläche zahlen. Aldi und Edeka müssen nicht nur ihre Läden, sondern auch Parkplätze für ihre Kund:innen anbieten. Gorillas nimmt den vermeintlich freien Raum bislang einfach so mit.
Was uns zur nächsten großen Unbekannten bringt.
Wenn immer mehr Menschen ihre Lebensmittel liefern lassen, werden immer weniger der sehr zentral gelegenen Flachdachbauten mit großem Parkplatzangebot gebraucht. Schon seit Jahren gibt es Bestrebungen, deren Flächenverbrauch zu optimieren, indem man etwa alte Kaufhallen abreißt und sie durch mehrstöckige Wohnhäuser mit Einkaufsgelegenheit im Erdgeschoss ersetzt. Zugleich wandern Parkmöglichkeiten aufs Dach oder unter die Erde, weil die versiegelten Betonwüsten in dichten Innenstädten zunehmend als Platzverschwendung gelten.
Noch ist es in diesem Land überaus akzeptiert, sich für 80.000 Euro einen Neuwagen zu kaufen, ihn für weitere tausende Euro pro Jahr zu versichern, von der Vertragswerkstatt in Schuss halten und mit einer endlichen Ressource betanken zu lassen – nur um mit dessen Hilfe Angebots-Orangensaft im Discounter zu ramschen. Doch Hedonist:innen haben schon länger gar kein Auto, dafür aber ein Herz für Bequemlichkeit und 3 Euro Kleingeld für die Rewe-Liefergebühr. Corona scheint dieser Fraktion weiter Auftrieb zu verleihen, und für das entsprechende Angebot zur Nachfrage sorgen nun zunehmend liefernde Supermärkte plus Amazon Fresh sowie Gorillas & Co. Zudem sitzen bislang auf Restaurant-Lieferungen eingestellte Dienste wie Wolt und Uber Eats in den Startlöchern, um uns unzubereiteten Kohlrabi und Kesselchips bis zur Wohnungstür zu kutschieren. Das alles ist zwar etwas teurer als im Discounter, aber dafür spart man sich Weg, Schlepperei und Zeit.
(Der Frage, wie fair die Bezahlung und wie gut die Arbeitsbedingungen der Liefer-Dienstleister:innen sind, darf sich gerne ein Newsletter mit dem Schwerpunkt moderne Arbeitswelt annehmen. Sie gehört in jedem Fall diskutiert.)
Unlängst las ich Emile Zolas „Das Paradies der Damen“, was nur nach „50 Shades of Grey“ klingt, bis man erfährt, dass eines der ersten Kaufhäuser von Paris im Roman diesen Namen trägt. Beschrieben wird neben einem herzzerreißenden Damenschicksal (Spoiler: Mit Happy-End. Denise küsst am Ende ihren Chef) der Aufstieg der Kaufhäuser mit breitem Sortiment auf Kosten kleiner Spezialgeschäfte im Paris des 19. Jahrhunderts. Letztere wissen zwar ihre Kund:innen zu Knöpfen, Regenschirmen oder Töpfen perfekt zu beraten, geraten aber aufgrund fehlender Umsatzmasse im Preiskampf mit dem Gemischtwarenladen Kaufhaus ins Hintertreffen.
Die kleinen Händler (alles Männer) mögen das nicht akzeptieren und schwören darauf, dass sich dieser neumodische Kaufhausquatsch niemals durchsetze – einfach, weil es bislang anders war.
Einer von ihnen erklärt:
„Früher, als es noch einen rechtschaffenen Handel gab, verstand man unter Modewaren einfach Stoffe und weiter nichts. Heute denken diese Leute nur daran, auf Kosten anderer alles an sich zu reißen. Das ganze Stadtviertel jammert schon darüber. Dieser Mouret [Inhaber des Paradies der Damen, Anm. ZO] richtet sie alle zugrunde. Ich selbst habe bisher nicht allzu sehr zu klagen. Er schadet mir, das ist sicher; aber er führt vorläufig nur Damenstoffe, leichtere für Kleider und schwere für Mäntel. Herrenartikel dagegen kauft man immer noch bei mir, Samt für Jagdanzüge, Livreestoffe und dergleichen; ganz zu schweigen von Flanellen und Wolltuchen, in denen er wohl schwerlich so gut sortiert ist wie ich.
Aber er fordert mich heraus; gerade vor unserer Tür, mitten in seiner Tuchauslage prahlt er mit seinen buntesten Konfektionsartikeln wie ein Jahrmarktschreier, um die jungen Mädchen damit zu ködern. Auf Ehre, ich würde mich schämen, zu solchen Mitteln zu greifen. Seit nahezu hundert Jahren ist mein Geschäft bekannt, und ich habe es nicht nötig, an meiner Tür solchen Köder für Maulaffen auszuhängen. Solange ich lebe, bleibt der ,Vieil Elbeuf’ so, wie ich ihn übernommen habe, mit seinen vier Auslagen rechts und links und sonst nichts!”
Ganz recht, da sind sie wieder, die bisherigen Tonangeber:innen samt ihrer festen Überzeugung, dass Fortschritt sich niemals durchsetzen werde.
Eine Verkäuferin hat jedoch das entscheidende Gegenargument:
„Aber das Publikum ist doch zufrieden.“
Wir wissen, wer am Ende recht behielt.
Lebensmittel nach Hause geliefert zu bekommen ist schlichtweg unfassbar bequem, nicht gravierend teurer und spart zudem Zeit und Autoerwerb. Darüber hinaus sind Obst und Gemüse besonders frisch, wenn sie nicht tagelang von Zwischenhändler zu Zwischenhändler durchgereicht und von anderen Kauflustigen ausgiebig begriffen wurden. Niemand sagt, dass in Zukunft alle so einkaufen werden. Aber eine Teilverschiebung reicht für kleine Erdbeben schon aus.
Überlegen wir also lieber heute, wie wir Gorillas-Lager störungsfreier in die Nachbarschaft integrieren und wo die Rewe-Laster in Zukunft parken sollen, bevor der Zeitgeist (Lasst uns mit dem Rad fahren!) mal wieder die Infrastruktur (Verdammt, wo bekommen wir Radwege her?) überholt.
Urbanes andernorts
Wohnen ist Grundrecht – aber auch eine ziemlich gute Geldanlage in Niedrigzinszeiten. Wer da mittlerweile so im Wohnungsmarkt europäischer Großstädte agiert, steht im Tagesspiegel.
Bedarf nach einer differenzierten Analyse, ob Städter:innen post Pandemie nun aufs Land flüchten oder nicht? Für die USA hat sich das City Lab die Mühe gemacht.
Offenbar bin ich nicht die einzige, die Bedarfsampeln hasst (mehr dazu sowie ihrem besseren Bruder, dem Zebrastreifen, steht hier):
Ding Dong, der Wocheneinkauf ist da!
Also, ich lebe ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Berlin oder in grossen Städten - aber deine punktgenauen Beobachtungen, eingebettet in spannendes Kontextdenken, öffnen die urbane Welt auch für Nicht-StädterInnen. Grossartiger Newsletter!